Alexander Schöppner
Bayrische Sagen
Alexander Schöppner

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Die Kapelle in Trochtelfingen

Trochtelfingen im Ries.

Im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts nach Christi des Herrn Menschwerdung, hauste auf dem Schlößchen in Trochtelfingen, da, wo man gen Bopfingen geht, Herr Gerung von Emmershofen, ein stattlicher Ritter, edel von Geschlecht wie von Gesinnung. Neben allen schönen Gaben an Körper, Geist und irdischen Gütern, womit Gott nach seiner Gnade ihn reichlich gesegnet hatte, war ihm auch der herrlichsten Gottesgaben eine geworden: ein schönes, frommes Weib, Margaretha von Holheim geheißen. Vor kurzem hatte er sie heimgeführt auf sein Schlößlein, und sie machte ihm die Erde zum Garten Eden, in dem jedoch weder eine Eva noch eine Schlange war. Er war auch gerade der Mann dazu, sein Glück so recht von ganzem Herzen zu fühlen, und wenn ihn auch öfter nach adeliger Sitte und Ritterbrauch das edle Waidwerk in die nahen dunklen Forste oder Stand und Beruf an den Hof und zu Festgelagen riefen, so kehrte er stets um so lieber zum heimischen Herd und zu seinem trauten Weib zurück.

Auf den höchsten Gipfel war sein irdisches Glück gestiegen, als sie ihm nach Jahresfrist ein Söhnlein gebar, schön wie eines der Engelein, die er oft in der nahen Klosterkirche zu Neresheim gesehen hatte. Aber es erging ihm, wie ein altes Volkslied singt:

Und hat dir Gott ein Lieb beschert,
Und hältst du es recht innig wert,
Die Deine,
Dann wird's wohl nicht mehr lange sein,
So läßt sie dich so gar allein;
Dann weine.

Ja, er weinte die bittersten Tränen, die je ein Mann geweint hat, und doch wollte das herbe Weh des Herzens ihn nicht verlassen. Wenige Tage nach der Geburt seines Söhnleins starb die Mutter in seinen Armen. Ein Fieber hatte sie dahingerafft. Öd und ausgestorben war ihm Haus und Hof, und der Umgang mit Menschen widerte ihn an. Das fröhliche Wiehern seines mutigen Rosses drang nicht in seine Ohren, des Forstes Schatten zog ihn nicht an, die treuen Rüden kannten ihren Herrn nicht mehr, und die Diener des Hauses schüttelten wehmütig den Kopf, wenn sie ihren Gebieter sahen. Wäre nicht das Kindlein gewesen, aus dessen Augen er das Ebenbild seiner Verlorenen zu sehen glaubte, er wäre gar bald zu ihr hinabgetragen worden in die kühle Gruft, um dort Ruhe zu suchen von des Herzens tiefstem Gram.

Doch die Zeit geht mildernd auch über solches Weh, und als das Knäblein mit der Zeit seinen Vater kannte, und ihn selbst in seiner großen Trauer anlächelte, als wollte es ihm Trost ins zerrissene Herz hineinlächeln, da wurde ihm immer deutlicher, daß ihn doch noch etwas im Leben festhalte und er noch eine Schuld abzutragen habe: die des Vaters gegen sein ohne ihn ja ganz verlassenes Kind. So geschah es denn auch, daß endlich die oft zornig oder wehmütig zurückgewiesenen Ermahnungen der wohlmeinenden Freunde, dem Kindlein eine andere Mutter zu geben, Eingang fanden – wenn auch nicht im Herzen, so doch im Verstand –, und er führte, seinen oft deutlich gefühlten Widerwillen männlich niederkämpfend, Wiltrude von Schopflohe heim in sein Schlößlein.

Sie war schön und klug, und unter den Glückwünschenden waren nicht wenige, die ihn als einen Ausbund des Glücks laut priesen oder heimlich beneideten, weil er nach so herbem Verlust abermals solch herrliches Kleinod gewonnen hatte. Diese Ansicht schien sich auch immer mehr als richtig zu bewähren. Emsig und verständig stand Frau Wiltrude ihrem Hauswesen vor, freundlich und scharfsinnig kam sie den Wünschen ihres Eheherrn entgegen, und je mehr er sich selbst oft Vorwürfe darüber zu machen hatte, daß er seine Hausfrau nicht nach Verdienst mit gänzlicher Hingebung zu lohnen imstande sei, um so mehr gab er sich Mühe, ihr wenigstens äußerlich alle Beweise der Achtung und Liebe zu geben. So schien allen das Glück des Paares fest begründet, besonders als Wiltrude ihrem Eheherrn zwei gesunde und – wie alle Welt behauptete – ihrem Vater gar sehr ähnliche Knäblein geboren hatte. Aber was auch das schärfste Falkenauge des Verstandes nicht gewahrt, das fühlt richtig das liebende Herz.

Wiltrude hatte schon früher das Bild des edlen Emmershofen liebend im Herzen getragen, und dies war ihr, wenn nicht vorher, so doch damals schrecklich klar geworden, als er seine Margaretha heimgeführt hatte und sie aus Herzeleid fast vergehen mußte. Je mehr sie das vor der Welt zu verbergen sich gedrungen fühlte, um so mehr wurde ihr ganzes Wesen mit Haß gegen die glückliche Nebenbuhlerin erfüllt. Dieser Haß war zwar eingeschlummert, als das Schicksal ihr so unverhofft nun dennoch den Mann ihres Herzens zuführte, aber er erwachte um so heftiger, als sie sah, mit welchem Wohlgefallen Gerung oft seinen Erstgeborenen betrachtete; wie jedermann die Ähnlichkeit des heranwachsenden Knaben mit seiner verstorbenen Mutter rühmend pries und ihr Eheherr auf solche Reden bald laut anteilnehmend einging, bald wehmütig still vor sich hinsah und wohl zuweilen einen leisen Seufzer zu unterdrücken suchte. Sie wähnte sich und ihre Kinder schmählich zurückgesetzt, und wenn sie darin auch unrecht hatte, weil der redliche und von Herzen wohlwollende Gerung dessen in der Tat unfähig war, so hatte sie doch darin recht, daß sie sich nicht in gleichem Maße geliebt glaubte, als Margaretha geliebt war; denn solche Liebe blüht nur einmal im Leben und nicht wieder.

Und wie sie das richtig herausgefühlt hatte, so mußte ja auch dem Ritter immer deutlicher werden, wie sehr ihr es auch die Klugheit zu verbergen riet, daß Wiltrude seine Margaretha noch im Grab hasse und diesen Haß auch auf sein geliebtes Kind übertrage. So konnte es dann nicht anders kommen, als daß die Herzen der Ehegatten sich immer mehr abstießen und wie mit heimlicher Zaubergewalt auseinandergehalten wurden.

Der starke Mann suchte sich mit willenskräftigem Entschluß stets auf der Bahn der Pflicht zu halten, und sein eifrigstes Bestreben ging nach wie vor dahin, sein Weib in Ehren zu halten und besonders die Knaben in wahrer Bruderliebe zueinander zu erziehen. Aber wie oft auch bei solchen offenbaren Beweisen seines redlichen und tugendlichen Strebens Wiltrude in alter Liebe sich oft zu ihm hingezogen fühlen mochte – das schwächere Weib war nicht imstande, die gewaltige Leidenschaft zu unterdrücken oder doch in den rechten Schranken zu halten. Ungerechte und bittere Vorwürfe machten öfter und immer öfter dem zwischen Liebe und Haß gewaltsam gepreßten Herzen Luft.

Gerung trug still, konnte es aber natürlich bei aller Seelenstärke doch nicht ganz vermeiden, daß nicht seine Gedanken immer wieder bei Margaretha weilten und endlich auch sein Gang in die Gruft immer regelmäßiger und häufiger wurde.

Wie er aber Trost und Ergebung dort suchte, so tat dies das leidenschaftliche Weib bei ihren Söhnen, und ihre anfänglich halb erstickten, bald nur zu deutlichen Äußerungen drückten früh schon den Stachel der Leidenschaft in die Seele der beiden Knaben. Der ausgestreute Same wuchs kräftig zum Bruderhaß heran und wurde nur zu eifrig von der in entsetzlicher Verblendung rasenden Stiefmutter großgezogen.

Vergeblich war alle Bemühung des unglücklichen Vaters, in den Brüdern das üppig aufschießende Unkraut zu unterdrücken; der Haß der beiden gegen den Erstgeborenen wurde um so giftiger, je mehr sie ihn vor der Welt und vor dem Vater zu verbergen suchten und je mehr ihr Bruder nicht Gleiches mit Gleichem vergalt, sondern immer sanft und freundlich blieb. Der Vater ermattete in stillem Gram, und die ungeteilte Liebe, die sich der immer herrlicher aufblühende Jüngling durch sein freundliches und wohlwollendes Benehmen überall erwarb, schürte die Flamme nur heftiger.

Früher fast stets unter Aufsicht des Vaters in ritterlicher Übung und im edlen Waidmannswerk erhalten, zogen die drei jetzt oftmals allein in den Forst. Da brachten eines Abends Knechte auf einer von Ästen und Zweigen geflochtenen Bahre die Leiche des Erstgeborenen ins Schloß. Stumm und das Kainszeichen auf der Stirn folgten die beiden anderen, und es fuhr wie ein entsetzlich grell leuchtender Blitz durch die Jammernacht des trostlosen Vaters, daß die Brüder den Bruder erschlagen hatten, wenngleich der Leichnam am Fuß des Felsens gefunden worden war, über den er im blinden Eifer der Jagd herabgestürzt sein sollte. Wenige Fragen und Antworten gaben ihm die Gewißheit, daß der fürchterliche Verdacht nur zu wohlbegründet sei. Da verließ ihn die Kraft, und mit dem Ruf zu Wiltrude: »Du hast Brudermörder geboren und großgezogen und deinen Mann gemordet!« sank er zusammen.

Mit Entsetzen und Abscheu wandte sich alles von dem elenden, vernichteten Weib, von den von Gott gezeichneten Brudermördern, und als man nach wenigen Tagen den armen, unglücklichen Gerung zu seiner Margaretha in die Gruft hinabtrug, da waren die Brüder verschwunden, und niemand wußte wohin. Sie hatten sich entfernt, als alle im Haus um das Bett des von unsäglichem Jammer bis zum Tode gebeugten Ritters und um die in Verzweiflung tobende Frau beschäftigt waren.

Die Unselige schlug sich die Brust wund, zerraufte ihr Haar und klagte sich selbst laut an; sie rief bald ihren Gatten im Grab, bald ihre verschwundenen Söhne und bald Gottes Strafgericht auf sich herab, und dennoch überstanden Leib und Seele die furchtbare Prüfung. Wie von Höllengeistern gejagt, flog sie in der Nacht treppauf, treppab mit fliegendem Haar, die Hände ringend und wehklagend; und wer sie sah, der glaubte einen Geist zu sehen, der nicht Ruhe finden konnte im Grab.

Wie war doch alles so verändert im Haus! Noch vor kurzem von einem treuen Gatten und von blühenden Söhnen umgeben, war sie jetzt so fürchterlich allein in ihrem selbstverschuldeten Elend. Wie oft sie auch von einem Fenster zum anderen im Schlößlein gehen und ihr Auge umherirren lassen mochte – sie sah niemand, der sich in bekannter Gestalt ihr genähert hätte, und so fehlte ihr der einzige Trost, der den Verlassenen auf Erden gegeben ist, wie das Lied sagt:

Nur mußt du mich auch recht verstehn,
Ja recht verstehn,
Wenn Menschen auseinandergehn,
So sagen sie auf Wiedersehn,
Auf Wiedersehn.

Eine Ahnung sagte ihr, daß sie sie nicht mehr wiedersehen sollte, ihre Söhne; und wenn auch – konnte sie sich des Wiedersehens freuen? Furchtbar klang ihr noch der schneidende Vorwurf ihres heimgegangenen Gatten in die Seele: »Du hast Brudermörder geboren und herangezogen!« Und mußten nicht die Söhne diesen Vorwurf still oder laut wiederholen? Hatte sie nicht ihre Jugend mit tödlichem Haß vergiftet? Sagte ihr nicht das eigene Gewissen, daß die eigene Mutter ihre Söhne um ihres Lebens Glück schändlich betrogen hatte?

Und wenn sie nun vollends an das Wiedersehen jenseits denken wollte, ach da kam sie vollends ein Grauen an. Es war ein entsetzlicher Zustand, in dem sie lebte, und wer das auch in den späteren Jahren noch schön gewesene Weib gekannt, wer sie vollends in ihrer Blüte gesehen hatte, der erkannte sie wahrlich nicht wieder! Doch die Zeit, die alles mildernde, wirkte beruhigend auf ihre Seele. Sie, die früher leider gar wenig an Gott gedacht hatte, die in der letzten Frist nur mit Furcht und Zittern an ihn hatte denken können, machte sich nun allmählich mehr mit diesem Gedanken vertraut und dachte, wenn auch öfter an den gerechten, doch zuweilen auch an den barmherzigen Gott.

Da kam einstmals ein Pilgersmann zu ihr, gar ehrwürdig von Ansehen und Vertrauen gewinnend in seiner Art zu sein und zu reden. Er hatte eine Erquickung und ein Nachtlager verlangt, und beides war ihm von der Witwe bereitwillig zugesagt worden. Da wünschte er zum Dank ihr und den Ihrigen Heil und Segen, und dieser Wunsch entlockte ihr Seufzer und Tränen. In dieser weichen Stimmung konnte sie der bescheidenen Frage des Pilgers um die Ursache ihrer Trauer nicht widerstehen, sie erzählte, was wir wissen, und vertraute zum ersten Mal ihr Elend einem menschlichen Ohr. Das diente zu ihrem Frieden, wie es denn auch das erste äußerliche Zeichen aufrichtiger Besserung war.

Immer gespannter hörte der Fremde zu und sprach, als sie geredet hatte, gerührt: »Da komme ich wohl zur rechten Stelle.«

Und nun fing er an zu erzählen, wie er als Pilger ins Morgenland gekommen war, wie er dort unter den Maltesern zwei ritterliche Knappen kennengelernt hatte, die, als Büßende um einer schweren Sünde willen vom Papst in Rom in den Krieg gegen die Türken gesandt, düster und in sich gekehrt infolge ihrer Buße ohne Wappen und Namen als die Tapfersten unter den Tapferen in einem Gefecht beide schwer verwundet worden seien; wie er, der Pilger, sich ihrer Pflege unterzogen und durch liebevolle Aufmerksamkeit ihr Vertrauen gewonnen habe. So hätten sie ihm denn auch einen Teil ihrer Geschichte – jedoch ohne Nennung eines Namens – vertraut und ihn um seine Meinung gefragt, ob solche schwere Sünde je Vergebung finden könne. Er habe sie sodann auf den Gnadenschatz der Kirche verwiesen und sie zu beichten überredet.

Bis aber der Priester, der nicht in der Nähe gewesen war, von ihm gefunden und herbeigeführt worden sei, habe sich der Zustand der beiden Verwundeten in dem Grad verschlimmert, daß sie fast unter der Beichte und zu gleicher Zeit gestorben seien. Er sei sodann nach vollzogener christlicher Beerdigung von dem Geistlichen, der ihre Beichte empfangen hatte, beauftragt worden, im Schwabenland bei seiner Heimkehr die Mutter der Verstorbenen aufzusuchen (deren Wohnort und Namen er, der deutschen Sprache wenig mächtig, nicht behalten habe) und ihr zu hinterbringen, daß sie mit vollkommener Absolution, nach Erfüllung der ihnen vom Heiligen Vater in Rom aufgelegten Buße, gestorben seien und auch ihr, der Mutter, von Herzen vergeben hätten.

»Das waren Eure Söhne«, sagte der Pilgersmann, »wie ich nach dem, was sie selbst und der Priester nach ihrem Tod in voller Übereinstimmung mit Eurer Erzählung gesagt haben, vollkommen gewiß bin. Sie starben in Frieden; so sucht auch Ihr den Frieden, edle Frau, und gewiß werdet Ihr ihn finden wie Eure Söhne. Euer Gemahl, der nach Eurer eigenen Schilderung schon auf Erden so liebevoll und sanftmütig war, hat Euch droben im Lande des Friedens und der Liebe gewiß längst vergeben, und auch Gott wird Euch vergeben, wenn Ihr ernstliche Buße tut.«

Bei diesem Zuspruch wurde der sonst so leidenschaftsvollen Frau das Herz gerührt, und sie weinte heiße Tränen und erbat sich noch manchen Rat von dem frommen Pilgersmann an diesem Abend.

Als dieser am folgenden Morgen geschieden war, kam bald der ehrwürdige Geistliche, den sie hatte rufen lassen, und dieser verließ sie fortan nicht mehr. Unweit des Schlößleins erbaute sie eine Kapelle und daneben ein Haus für den Priester, dem sie zur Pflicht machte, bekümmerte und niedergeschlagene Herzen aufzusuchen und zu trösten und die Pilger, die des Weges kamen, zu bewirten und zu pflegen. Der Friede, den sie in ihrem früheren Leben nie gekannt hatte, zog ein in ihr Herz, noch ehe dieses aufhörte zu schlagen; und als sie an einem stürmischen Herbsttag 1351 ihr so bewegtes Leben endigte, da wurde sie in die Gruft jener Kapelle getragen zu ihrem Gemahl und zu dem einst so gehaßten Stiefsohn, mit dem sie nun im Grab vereint war.

Wanderer, stehe still an ihrem Grab, lerne die Sünde fliehen, die dich elend macht, und suche den Frieden des Herzens in Demut und Gottesfurcht.

 


 


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