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Graf Leo N. Tolstoj

Graf Leo N. Tolstoj, geb. 1828 im Gouvernement Tula, wohnt auf seiner väterlichen Besitzung Jasnaja Poljana. Graf Tolstoj gehört zu den Erscheinungen, die beitragen, unsere Gegenwart zu charakterisieren. Als Offizier – er machte den russisch-türkischen Krieg von 1855 mit – lernte er die entsetzlichsten Erscheinungen des sozialen Lebens kennen, deren Studium und Bekämpfung in dichterischen und essayistischen Werken seine Lebensaufgabe wurde. Tolstojs Grundstimmung ist eine urchristliche; doch ließ ihn sein idealistischer Gerechtigkeitstrieb bald den Gegensatz von Religion und Kirche erkennen, so daß er der erbittertste Feind des offiziellen Christentums geworden ist. Dadurch, daß Tolstoj stets bestrebt ist, so gemeinverständlich wie nur irgend möglich zu schreiben, und sich unmittelbar an seine engere Umgebung, d. i. an russische Kleinbauern wendet, ohne doch zu vergessen, daß seine Worte weiter hinausdringen und revolutionierend die Geister der gesamten Kulturwelt beeinflussen sollen, ist seine ständige Berufung auf Gott und Christus wohl eher symbolisch als wörtlich aufzufassen. Daher kommt es, daß Tolstoj in allen seinen Werken durchaus Tendenzdichter ist, daß alle seine Produktionen mehr auf eine ethische als eine ästhetische Wirkung berechnet sind. Aber Tolstoj ist zu sehr Künstler, zu sehr Dichter und Stilist, als daß man ihn lediglich als Prediger und Meinungsapostel auffassen könnte. Hier – freilich nur hier – zeigt seine Persönlichkeit und sein Schaffen eine Ähnlichkeit mit Nietzsche. So sehr ist Tolstoj Dichter, daß selbst die Schriften, in denen er polemisierend zu Zeitfragen, ja zu aktuellen Begebenheiten Stellung nimmt, ihren ästhetisch-künstlerischen Eindruck selbst auf die erbittertsten Gegner der von ihm verfolgten Tendenzen nicht verfehlen können. Darum ist es auch grundfalsch, die überragende Persönlichkeit Tolstojs als Politiker zu bewerten und zu befehden, vielmehr ist die künstlerische Konsequenz zu bewundern, mit der er die christliche Duldungs- und Liebeslehre auf das gesamte Leben des Einzelnen und der Völker überträgt, und die Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Überzeugung selbst da vertritt, wo ihre Befolgung rettungslos zur Vernichtung führen muß. Aus den Geboten der Christlichkeit leitet er die von den Anarchisten übernommene Taktik des passiven Widerstandes her. »Du sollst nicht töten! – folglich verweigere dem Staate die Heeresfolge, verweigere ihm die Steuern, mit denen er seine Heere ausrüstet, verweigere ihm die Arbeitskraft, die er zum Nutzen seiner blutigen Expansionspolitik ausbeutet!« – Das sind dieselben erzrevolutionären Grundsätze, wie sie heute von den Anarchisten aller Länder zum Zweck des Sturzes der modernen Staatswesen nachdrücklich propagiert werden. Daß Tolstoj selbst bis zur Utopie weitergeht, daß er der notwendigen Folge solchen passiven Widerstands, den gewaltsamen Repressalien des Staats gegenüber das Recht der Notwehr leugnet, kann ihm nur von dem Gesichtspunkt der Zeitpolitik aus als reaktionärer Zug ausgelegt werden, um so mehr, als ja die christliche Forderung, Gewalt zu dulden, ohne Gegengewalt anzuwenden, immer nur Theorie bleiben muß. Die dichterische Konsequenz aber, mit der Tolstoj selbst diese logische Folge seiner Denkweise nicht scheut, beweist evident, wie gegenwartüberragend, wie zeitlos und aufs Ewige gerichtet die Tendenz seiner Kunst ist. Tolstojs Romane sind die packendsten Kulturgemälde, die wir besitzen. Die einfachen, klaren Sätze, in denen er die Dinge schildert, wie er sie sieht, die ergreifende Ruhe, mit der er die furchtbarsten Zustände unverschnörkelt und unverschleiert zeichnet, die ehrliche Subjektivität seiner Auffassung, deren alleingültige Berechtigung er jedoch aus der zwingenden Folgerichtigkeit seiner Logik einleuchtend macht, bedingen den Kulturwert seiner Dichtungen.

Und überall ist das Thema seiner Kunst, die Unversöhnlichkeit der Gegensätze zwischen den modernen Gesellschaftsinstitutionen und den ewigen Forderungen der Menschlichkeit darzutun. In »Krieg und Frieden« ist es der Militarismus, in »Anna Karenina« der Kapitalismus, in der »Auferstehung« die Justiz und in der »Kreuzersonate« die Ehe, die Tolstoi zum Gegenstande seiner künstlerisch-ethischen Untersuchungen macht. Daß er in dem letztgenannten Roman, ebenso wie auch in etlichen kleineren Schriften, nicht nur die Ehe als gesellschaftliche Institution verwirft, sondern die Sexualität überhaupt grundsätzlich bekämpft, – auch das ist nur eine notwendige Konsequenz seiner lebensverneinenden, christlichen Grundüberzeugung; – dieselbe Konsequenz, aus der der lebensbejahende Nietzsche ebenso folgerichtig seinen fanatischen Haß gegen das Christentum und seine Lehren herleitet. Aus der gleichen christlichen Überzeugung entspringen ferner Tolstojs positive Forderungen des naturgemäßen Lebens, des Vegetabilismus, der Alkohol-, Nikotin- und Giftenthaltung, der Arbeit in und mit der Natur und der denkbar einfachsten und bedürfnislosesten Lebenshaltung, sowie die Ablehnung der Kunst als Lebenselement und der Liebe als Prinzip der Unterhaltung. In zahllosen kleineren Schriften und Essays behandelt er diese Themata in all ihren Einzelheiten, und in dem epochalen dramatischen Werk »Die Macht der Finsternis« stellt er die Gegensätze von Armut und Reichtum, Keuschheit und Sinnlichkeit, Gerechtigkeit und Eigennutz mit gewaltiger dichterischer Kraft gegeneinander auf. Die gewaltige Persönlichkeit dieses Mannes, der ungeachtet aller Gefahren und Anfeindungen seine Stimme aus dem Lande der Knechtschaft und Unterdrückung über die ganze Menschheit hin ertönen läßt, seine ungeheuere dichterische Überzeugungskraft und die eiserne Konsequenz seiner Lehren weisen Leo Tolstoj einen Platz in der Kulturgeschichte der Menschheit an, von dem aus er den zeitlichen Tageskampf als weltgeschichtliches Ereignis weit überragt.

E. M.


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