Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[164] An Frau von Epinay

(Antwort auf unendlich viele Nummern)

Neapel, den 21. September 1776

Ich bin krank gewesen, teure Frau; ich habe zu tun gehabt; ich bin in Langeweile, Kummer und Ekel gesteckt: da haben Sie die Ursachen meines drei- oder vierwöchentlichen Schweigens.

Ihre Briefe haben mich erfreut, ja belebt, aber nicht bis zu einem Grade, daß ich es Ihnen hätte sagen können. Ich gedachte Freitag, nachdem ich Ihren Brief gelesen, zu antworten. Und welch eine Antwort hätte das gegeben! Aber am Samstag bin ich in meine Faulheit zurückgesunken und zu keiner Antwort gekommen. Heute bin ich für niemand zu Hause, und dies ist mein Recht; denn es ist Festtag, und ich habe mir vorgenommen, Ihnen eine gründliche Antwort zukommen zu lassen. Zunächst danke ich. Ihnen für das Tintenrezept, das Sie dem Brief, in welchem Sie mir davon sprachen, beizufügen vergaßen und das mit dem nächsten eingetroffen ist. Aber großer Gott! Wenn ich Tinte machen könnte, wenn man dies hier verstünde, hätte ich nicht einen regierenden Fürsten darum gebeten. Diese Rezepte sind ebenso alt, als die Tinte selbst; dennoch fabriziert man gute und schlechte, je nach den Ländern, ohne daß das Rezept für gute jemals ein Geheimnis gewesen wäre. Nun aber seien Sie vollkommen überzeugt, daß die stärkste und wahrhaftigste Ursache, daß ich Ihnen für den Augenblick nicht gern schreibe, die schlechte Tinte ist. Wenn Ihnen etwas daran liegt, versuchen Sie Abhilfe zu schaffen, und ich habe Ihnen gesagt, auf welche Weise Sie es mit dem Markgrafen anstellen müssen.

Der Brief, in dem Sie mir das Unglück meldeten, das Ihnen durch den Verlust des Fräuleins von Lespinasse zugestoßen, ist verlorengegangen, und ich hatte mir dies wohl gedacht, wie ich es Ihnen auch geschrieben habe.

In Ihrem letzten sprechen Sie mir von dem Unglück der Frau Geoffrin; sie verfällt nach den Gesetzen der Natur und der Zeit, wie die festesten Gebäude, die stückweise verwittern. Ich hoffe, daß sie noch einige Zeit kränkelnd dahinleben wird; aber ich hoffe nicht mehr, sie bei meiner Rückkehr nach Paris wiederzusehen.

Herr Clermont überraschte und erstaunte mich gestern abend durch die Behauptung, die Krankheit und die Rückfälle der Frau Geoffrin hätten ihre Ursache in den übermäßigen Bußübungen, die sie während des Jubiläums durchmachte. Auf meinem Heimwege habe ich über diesen seltsamen Gesinnungswechsel nachgedacht und gefunden, daß er die natürlichste Sache der Welt ist. Durch die Ungläubigkeit tut der menschliche Geist seinen eigenen Instinkten und seinem Geschmack die größte Gewalt an. Es handelt sich darum, sich für immer aller Freuden der Phantasie und des Geschmacks am Wunderbaren zu berauben; es handelt sich um die ganze Entleerung des Schulsacks; und der Mensch möchte Erkenntnis; immer und alles zu leugnen oder anzuzweifeln, in der Verarmung an allen Ideen, Kenntnissen und erhabenen Wissenschaften usw. stecken zu bleiben, welche entsetzliche Leere, welch ein Nichts! Welche Mühe! Es ist also erwiesen, daß die Mehrzahl der Menschen (und besonders die Frauen, deren Phantasie doppelter Art ist, weil sie nämlich die Phantasie des Kopfes und die der Gebärmutter haben) nicht ungläubig sein kann, und daß die ändern, die es können, die geistige Anstrengung nicht auszuhalten vermögen, ohne die Kraft und Jugend der Seele. Wenn die Seele altert, taucht irgendein Glaube wieder auf. Dies ist auch der Grund, warum man die wirklich Ungläubigen niemals verfolgen sollte, und ich möchte hinzufügen, daß sie in der Tat niemals verfolgt worden sind. Man verfolgt nur die Fanatiker, die Sektengründer, die einen Anhang nach sich ziehen könnten. Der Fanatiker ist ein Mensch, der inmitten einer Volksmenge zu laufen anfängt und dem zunächst alle nachlaufen. Der Ungläubige tut viel mehr. Er gleicht einem Seiltänzer, der in der Luft die unglaublichsten Künste ausführt und Räder schlägt. Alle Zuschauer sehen es mit Entsetzen und Erstaunen und niemand versucht, ihm zu folgen oder ihn nachzuahmen. Ergo mußte Frau Geoffrin mit einem guten Jubiläum abschließen. Q.E.D.

Ich wünsche Ihnen ein gleiches Ende: das ist kein schlechter Wunsch für Ihre Gesundheit. Sie werden mir sagen, dies ist wahr, aber kein hübsches Kompliment für Ihren Geist; ich gebe dies zu. Aber was ist denn der Geist im Vergleich zu dem Magen?

Ich habe Wort gehalten. Das ist ein langer Brief, und ich könnte ihn noch verlängern durch die Empfehlungen Gleichens, der mir immer welche aufträgt.

Warum wollen Sie mir Ihr Liedchen nicht schicken? Irgendein Reisender wird mir es erklären. Leben Sie wohl! Schicken Sie mir, wenn Sie können, allgemeine Neuigkeiten: meine Leidenschaft ist jetzt die Zeitung.


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