Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[66] An Frau von Epinay

Neapel, den 24. April 1771

Was für eine reizende Nummer, Ihre Nr. 51. Oh, was für eine liebenswürdige Nummer! Schade, daß sie nicht in der Lotterie herausgekommen ist! Übrigens ist Ihr Brief ein Muster von Zärtlichkeit, von Gefühl, sogar von Koketterie, und ich will ihn drucken lassen zu meiner Ehre und zu meinem Ruhm. Sie haben sich also wahrsagen lassen, und man hat Ihnen gesagt, Sie werden mich wiedersehen; aber man hat Ihnen nicht gesagt, daß ich Sie nicht wiedersehen werde. Ja, Sie werden mich sehen, wenn ich tlind bin; das sagt Ihnen der wahre Prophet. Was? Das Ungeheuer hat mich vor allen Mächten des Nordens entehrt? Wer hätte das gedacht, schöne Frau! Er ist meiner Rache nicht mehr wert. Wissen Sie, was ich ihm zugedacht hatte? Da ich mich auf dem Gebiet des Scherzes als geschlagen ansehe und nicht glaube, daß ich ihn übertreffen kann, so gedachte ich, ihm etwas ganz Ernsthaftes von mir zu schicken: einen prophetischen Ausblick auf den Zustand Europas in hundert Jahren. Die Kapitel würden ungefähr gelautet haben: Zustand der Religion. – Priester, Mönche, Papst, Protestanten und Griechen. – Die Lage Frankreichs, Englands, Spaniens, Italiens usw. – Wissenschaften, Künste, Handel, Finanzen, Nationalökonomie, Verwaltungssysteme usw. – Amerika und die europäischen Kolonien.

Das wäre ein schreckliches Buch! Es würde daraus hervorgehen, daß wir in hundert Jahren viel mehr Ähnlichkeit mit China haben als jetzt. Es wird zwei scharf voneinander unterschiedene Religionen geben: die Religion der Vornehmen und wissenschaftlich Gebildeten, und die Religion des Volkes; diese wird in drei oder vier Sekten geschieden sein, die sich gut unterein ander vertragen. Priester und Mönche werden zahlreicher sein als jetzt; sie werden leidlich reich, unbeachtet und ruhig sein. Der Papst wird nur noch ein erlauchter Bischof sein, aber kein Fürst mehr; man wird ihm nach und nach seinen ganzen Staat weggeschnappt haben. Es wird große stehende Heere geben und fast gar keine Kriege. Die Truppen werden wundervolle Parademanöver machen, aber Offiziere und Soldaten werden weder grausam, noch tapfer sein. Sie werden schöne Tressen haben, sonst nichts. Die Festungen werden verfallen, und aus den Wällen werden überall schöne Spaziergänge und Baumpflanzungen. Der Oberherrscher Europas wird der Fürst unserer Tartaren sein, das heißt: derjenige, der Polen, Rußland und Preußen besitzen und an der Ostsee wie am Schwarzen Meer gebieten wird; denn die nordischen Völker werden stets weniger feige sein als die des Südens. Die übrigen Fürsten werden der Politik dieses übermächtigen Kabinetts gehorchen. England wird sich von Europa trennen, wie Japan von China. Es wird sich mit seinem Amerika vereinigen, dessen größten Teil es besitzen wird, und wird den Handel der übrigen Welt beherrschen. Überall wird Despotismus herrschen, aber ein Despotismus ohne Grausamkeit, ohne Blutvergießen. Ein Beamtendespotismus, der sich stets auf die Auslegung alter Gesetze, auf Juristenweisheit und Advokatenkniffe stützt. Und dieser Despotismus wird nur die Finanzen der Privatleute im Auge haben. Glücklich alsdann die Talarträger, die unsere Mandarinen sein werden! Sie werden alles sein, denn die Soldaten werden nur zu Paradezwecken da sein. Die Gewerbe werden überall blühen, wie in Indien. Guten Abend; Fortsetzung folgt baldigst.


 << zurück weiter >>