Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[144] An Frau von Epinay

Neapel, den 23. April 1774

Ich fühle mich, schöne Frau, dümmer als je durch meine langweiligen Verhältnisse. Mein Bruder hat Hab und Gut voller Schulden und in Unordnung hinterlassen, und ich habe drei Nichten zu verheiraten. Ich beschäftige mich also nur mit Prozessen, Quittungen, Einnahmen usw. Dann kommen die Eheverträge, und das ist mein Vergnügen für lange Zeit. Wenn ich aber am Leben bleibe und andere sterben, werde ich in Paris wieder auftauchen, zweifeln Sie nicht daran.

Ich glaube Ihnen mitgeteilt zu haben, daß mir der Herzog von Sachsen-Gotha die Gedenkmünze auf seinen seligen Vater in Gold geschickt hat, mit einem reizenden und unglaublich verbindlichen Geleitschreiben. Er hat von mir eine sehr drollige Antwort bekommen. Wenn ich einen französischen Abschreiber hätte, würde ich Ihnen beide schicken; vielleicht wird er Grimm die meinige bei seiner Rückkehr zeigen.

Sie sagen mir nichts von der Abreise Caracciolis und nichts von der Gesundheit Pignatellis. Die Fregatten des Königs, die von hier nach Marseille gehen, stechen heut in See. Gott gebe, daß meine Baumwollstoffe vor ihrer Rückkehr von Marseille nach Neapel ankommen, damit sie sie verladen können...

Ihr Streit mit Lord Stormont scheint mir leicht beizulegen. Über das Verdienst eines Mannes steht nur seinem Jahrhundert mit Recht ein Urteil zu; aber ein Jahrhundert hat das Recht, über ein anderes zu urteilen. Wenn Voltaire den Menschen Corneille schlecht beurteilt hat, so ist er auf alberne Weise neidisch; wenn er das Jahrhundert Corneilles beurteilt und die Gradhöhe der dramatischen Dichtkunst, so steht ihm dies frei, und unser Jahrhundert hat das Recht, den Geschmack der vorhergehenden Jahrhunderte zu prüfen. Ich habe nie die Anmerkungen Voltaires zur Corneille gelesen, noch auch den Willen dazu gehabt, obgleich sie mir, als sie erschienen, auf allen Pariser Kaminen in die Augen sprangen. Aber ich war gezwungen, das Buch zwei- oder dreimal wenigstens aus Zerstreutheit aufzuschlagen, und jedesmal habe ich es empört weggeworfen, weil ich auf grammatikalische Anmerkungen stieß, die mir bewiesen, daß ein Wort oder ein Satz Corneilles kein gutes Französisch waren: dies erschien mir ebenso abgeschmackt, wie wenn man mir sagte, daß Cicero und Virgil, obgleich sie Italiener waren, kein ebenso gutes Italienisch schrieben wie Boccaccio und Ariost! Welche Frechheit! Alle Jahrhunderte und alle Länder haben ihre lebenden Sprachen, und alle sind gleich gut. Jeder schreibt die seinige: wir wissen nicht, was mit der französischen Sprache geschehen wird, wenn sie eine tote sein wird; aber es könnte sein, daß die Nachwelt sich vornähme, französisch nach dem Stil Montaignes und Corneilles zu schreiben, und nicht nach dem Voltaires. Daran wäre nichts Sonderbares. Man schreibt lateinisch nach dem Muster des Plautus, des Terenz, des Lucretius, und nicht nach dem des Prudentius, Sidonius Apollinaris usw.; obgleich die Römer im vierten Jahrhundert unendlich weiter in den Wissenschaften, in der Astronomie, Geometrie, Heilkunde, Literatur etc. waran, als zu den Zeiten des Terenz und des Lucretius. Das ist Geschmackssache, und wir können den Geschmack der Nachwelt nicht vorausahnen, vorausgesetzt, daß wir überhaupt auf diese gelangen und eine allgemeine Sintflut nicht dazwischen kommt.

Guten Abend; haben Sie mich lieb und gehen Sie näher auf Einzelheiten ein.


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