Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[65] An Frau von Epinay

Neapel, den 20. April 1771

Schöne Frau,

ich weiß nicht, ob ich auf alle Ihre vorhergehenden Briefe geantwortet habe; aber was war da zu beantworten? Diese Nr. 47, die mir Ihre Armut meldete, schmetterte mich nieder; meine Phantasie fand keine andere Hilfe als die Einladung, zu mir zu ziehen. Meine Mutter ist tot, meine Schwestern sind Nonnen, meine Nichten sind dumme Gänse; meine ganze Gesellschaft ist eine Katze. Ihre Nr. 48 erheiterte mich, da ich Sie in Ihrem Zimmer trällern und singen hörte. Ihre Nr. 49 machte mir keine Angst um meinen Freund; man hätte ihm einen großen Dienst erwiesen, hätte man ihn in die Verbannung geschickt; er wäre aller Verantwortung ledig gewesen. Aber ich habe Ihnen schon geschrieben, man wird ihn nicht verbannen. Ihre Nr. 50 ist lang, folglich reizend.

Die Kaiserin von Rußland hat mit ihrer Branntweinsteuer nichts Außergewöhnliches getan. In allen Polizeistaaten werden Tabak und Salz behandelt, wie sie ihren Branntwein behandelt. Rußland beginnt also Polizeistaat zu werden. Steuern sind die rheumatischen Schmerzen der Staaten, eine Alterskrankheit. Junge Nationen kennen keine Steuern. Sie haben dafür heftige Erschütterungen, Kriege, Aufstände, Feudalrecht, Leibeigenschaft usw. Wenn sie alt werden, hört das auf; dann kommen die Rheumatismusanfälle der Steuern, man hustet, man spuckt einen doppelten Zwanzigsten aus, ein Stempelpapier, eine Ledersteuer u. dgl. Böser Auswurf! Endlich wird der Husten chronisch. Er bleibt, und man hustet weiter; aber man spuckt nichts mehr aus, wenn die Steuern vervielfältigt werden, ohne daß das Einkommen sich erhöht. Man stirbt vor Schwäche und Erschöpfung.

Sie nötigen mich, Ihnen einen Vortrag über Ihren Streit mit Diderot zu halten. Wie viel lieber würde ich ihn an Ihrem Kamin oder an Ihrem Eßtisch halten!

Das Testament liegt nicht im natürlichen Recht begründet; es ist widernatürlich. Ein Toter darf keinem Lebenden befehlen. Das Testament ist nach dem Erbrecht eingeführt worden, und das Erbrecht ist ein Mittel, um zu verhindern, daß Güter nach dem Tode des Besitzers herrenlos werden. In der Natur gehört herrenloses Gut dem ersten besten, der es in Besitz nimmt. Da es notwendig war, Streit darüber zu verhindern, so entstand das Erbrecht, und mit diesem Recht näherte man sich der natürlichen Ordnung der Dinge. Man hat das herrenlose Gut denen zugesprochen, von denen man annahm, daß sie zuerst imstande wären, es sich anzueignen. Denn die Hinterlassenschaft eines sterbenden Vaters können stets seine Kinder und seine Verwandten zuerst in Besitz nehmen. Später hat man Änderungen eingeführt und das Gesetz noch vervollkommnet. Jedenfalls aber ist das Erbrecht das erste und heiligste aller Rechte, und es gilt der Gesellschaft als das wertvollste; es ist das Recht der legitimen Erbfolge, auch Erbfolge ab intestat genannt. Es genügt. Das Testament ist ein Vorrecht, eine Befreiung von diesem Gesetz, eine Verletzung desselben. Daher ist es weder wertvoll, noch für die bürgerliche Ordnung notwendig. Seine Einführung ist durch andere Gründe veranlaßt worden. Man hat einem Testator gesetzgeberische Macht bei seinem Tode verleihen wollen, damit er bei Lebzeiten gefürchtet und geachtet werde. Dies ist der Grund, warum das Gesetz diese unnatürliche Rechtshoheit des Testators später durch eine unendliche Menge von Änderungen und lästigen Bestimmungen eingeschränkt hat. Man gesteht ihm nicht die Verfügung über das Ganze zu. Man behält das Pflichtteil vor, man macht Ergänzungen, man legt seinen Willen anders aus, wenn nachträglich noch Kinder geboren werden usw. Vor allen Dingen ist es notwendig, die Echtheit und formelle Abfassung der Urkunde zu beweisen. Fünf Zeugen, ein Beamter, den man Notar nennt usw., sind erforderlich. Nur für Soldaten, die vor einer Schlacht ihren letzten Willen aufsetzen, hat man einige Formalitäten als überflüssig erklärt. Übrigens muß das Testament eine öffentliche Urkunde sein; die Familie muß vorher wissen, ob eins vorhanden ist oder nicht; selbst die Öffentlichkeit muß darum wissen; der Inhalt wird unbekannt bleiben, aber man muß wissen, daß eins vorhanden ist. So ist es nach dem römischen Recht, und das ist das vernünftigste Recht. Aber wenn Sie barocke Gesetze haben, so hat die Moral keine Schuld mehr daran. Diderots Vater hätte kein Testament verbrennen können, es nicht einmal öffnen dürfen; wenn es offen war, so war es ungültig, wenn es nicht etwa von fünf oder sieben Zeugen unterzeichnet war, die alle noch am Leben sind. Die Richter mußten es für ungültig erklären. Übrigens sagt er mit Recht, der Ort, wo man es gefunden habe, beweise nichts. Aber die geringste Formalität, die an der Urkunde gefehlt hätte, mußte sie ungültig machen, und die Hinterlassenschaft mußte denen zufallen, die nach dem Gesetz dazu berufen waren. Es ist nicht gerecht, Privilegien, die dem ursprünglichen Gesetz widersprechen, noch zu vergrößern, und das Recht, ein Testament zu machen, ist ein Vorrecht, das gegen das ursprüngliche Gesetz verstößt. Aber der Testamentsvollstrecker war nicht Richter; er konnte es nicht verbrennen, die Richter mußten es für ungültig erklären. So, scheint mir, muß Ihre Streitfrage gelöst werden. Die Schuld hat entweder an Ihren Richtern oder an Ihren Gesetzen gelegen. Man kann schlechte Gesetze haben; wenn man sagt: Gesetz ist Gesetz, so ist damit noch nicht gesagt, daß das Gesetz gut ist. Dies ist einer von den Fehlem, den die Ökonomisten machen. Gott behüte uns davor, wenn die Gesetze schlecht sind – und oft sind sie das. Sie führen den gesetzlichen Despotismus herbei. Haben Sie jetzt genug von meinem Wortschwall?

Schreiben Sie lange Briefe – sehr lange! Ich bezahle sie ja. Also kann der Herr Botschafter sie mir ohne Gewissensbisse schicken. Kein Mensch hat noch die Neujahrspredigt gesehen; ich werde niemandem darüber schreiben. Aber ich habe sie schon zweimal wieder gelesen. Diese Heimlichkeit erscheint mir köstlich.

Mir gefällt auch der Brief des Pfarrers Papin, der auf die Geschichte von den beiden Freunden folgt. Kurz, alles, was mich nicht zum Weinen bringt, macht mich lachen, und was mich zum Lachen bringt, macht mir Vergnügen.

... Was macht mein lieber Grimm? Ich habe seit vierzehn Tagen einen Schnupfen, der mir alle Lust benommen hat, ihm zu schreiben. Ich umarme den Philosophen.

Mein »Radau« wird erscheinen können, wenn Sie keine ärgeren Tumulte mehr befürchten. Es ist nicht nötig, auf ein neues Buch de la Rivieres zu warten. Es genügt, daß etwas Schäfiges von derselben Sorte schon vorhanden ist. Leben Sie wohl!


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