Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[154] An Frau von Epinay

Neapel, den 10. Juni 1775

Ich empfange auf einmal, schöne Frau (ich gebrauche meine alte Anrede, weil mein Herz mir sagt, daß die Revolten und Tumulte usw. Sie verschönert, angefettet, verjüngt haben werden), zwei Briefe von Ihnen, vom 15. und 27. Mai, die mir nichts sagen. Das ist sehr sonderbar, daß in einem Lande, wo alles zu drucken erlaubt ist, es gestattet ist, nichts zu schreiben. Indessen habe ich Briefe von Spa erhalten, die mir viel mehr sagen.

Wenn ich Muße hätte, würde ich einen politischen Traktat schreiben über Revolten, ihre Ursachen, ihre Wirkungen und die Mittel, ihnen zuvorzukommen und sie zu sanieren. Zunächst würde ich feststellen und gehörig predigen, daß nichts den Herrschern so viel Ehre macht als die Revolten. Der Zar Peter hat zwanzig bestanden. Der König Karl ist der erste, der sich rühmen kann, solche in Madrid erlebt zu haben, nachdem er den Kehricht und die Jesuiten aus der Stadt weggefegt hatte. Aber das ist ganz einfach; man nimmt kein Purgier- oder Speimittel, ohne Bauchgrimmen, leichte Krämpfe, Schwächezustände usw. zu fühlen; alle diese kleinen Übel sind die Begleiter der Genesung.

Wenn Euer junger Herrscher Herrn Turgot nicht den Launen oder dem panischen Schrecken seines Volkes opfert, verdient er, wegen dieses einen Zuges, den Beinamen des Großen. Aber ich fürchte, man wird seine Jugend überraschen. Warten wir es ab...

Was meinen Freund Morellet, meinen heutigen Widerleger betrifft, so verzeihe ich ihm, da ich für sein Buch nicht die hundert Franken bezahlt habe, seine ganze Widerlegung. Wahrhaftig, ich wäre beinahe vor Lachen gestorben, als ich sah, daß er, als guter Theologe, im Innersten überzeugt ist, er sei vor seinem Gewissen verpflichtet, alle meine Worte, meine Silben, meine Beistriche zu widerlegen. Es lebe der Jansenismus! Alle Tugenden der Heiden sind Laster. Er widerlegt mich, wenn ich die Ökonomisten bekämpfe; er widerlegt mich noch heftiger, wenn ich in Übereinstimmung mit ihnen bin. Alles aus meinem Mund mißfällt ihm: das ist wahrhaftig reizend. Die notwendige Folge davon ist, daß jemand, der sein Buch liest, nicht wissen wird, welche Folgerungen er daraus ziehen soll, und die Meinung des Abbé nicht erraten wird; er wird nur erfahren, daß er nicht meine Ansichten teilt, und dies gilt ebensogut von denen, die ich habe, wie von denen, die ich nicht habe. Wie lehrreich dies doch ist!...

Guten Abend; es ist sehr spät. Leben Sie wohl. Haben Sie mich lieb.


 << zurück weiter >>