Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[92] An Frau von Epinay

Neapel, den 28. März 1772

Ich werde mich wohl hüten, Herrn Gatti den kleinen Absatz vorzulesen, der sich in Ihrer Nr. 87 auf ihn bezieht. Es wäre der reine Mord. Keiner seiner Freunde würde ihm verzeihen, leichten Herzens tausend Louis aufzugeben, die er in drei Monaten verdienen kann. Wenn Sie sähen, mit welcher Geschwindigkeit das Impfen sich hier einbürgert, Sie würden erstaunt sein und ausrufen: »Ah, was für ein barbarisches Volk! Wie man hier sieht, daß das Licht der natürlichen Vernunft durch keine Kenntnisse getrübt ist!« Wenn Sie sähen, wie die Mütter in einer mit Dummheit gemischten Zärtlichkeit ihre Kinder zum Impfen anbieten, würde es Ihnen recht merkwürdig erscheinen. Von allen Gründen, die man in Paris gegen das Impfen einwendet, wurde hier kein einziger vorgebracht. Einen einzigen hört man zuweilen erwähnen: es scheint mehreren, als ob man sich damit dem Schicksal widersetze und der göttlichen Allmacht Hindernisse bereite. Ah, wie wahr ist es doch, daß der Fatalismus die einzige Weltanschauung ist, die für Wilde paßt; wenn man die Sprache der Tiere wirklich verstünde, würde man sehen, daß er die einzige Weltanschauung aller Tiere ist. Der Fatalismus ist Vater und Sohn der Barbarei; er ist von ihr gezeugt und nährt sie dann. Und wissen Sie warum? Weil er die bequemste Weltanschauung für Faulenzer ist und darum die bequemste für den Menschen. Keinem Neapolitaner fiel es ein, Gatti zu berufen; aber da er mal hier ist, läßt man sich impfen. Da haben Sie die Neuigkeit meiner Stadt und einige Betrachtungen, die ganz mein eigen sind.

Ich danke Ihnen für das Rezept des Weins gegen den Skorbut, das Sie mir geschickt haben. Aber ich bin nicht krank; ich habe ihn noch nicht eingenommen, und wenn ich es tue, geschieht es nur, um meinen Appetit aufzumuntern; denn früher übte er auf mich diese Wirkung. Wenn Sie einen Wein gegen die Langeweile haben, schicken Sie mir ihn schnell; das ist das Geheimnis, das mir das Leben retten kann, denn ich langweile mich zum Sterben. Als ich Ihnen schrieb, die Erhaltung meines Lebens hänge von dem antiskorbutischen Wein ab, scherzte ich: und wenn Sie das Gesicht gesehen hätten, das ich dabei machte, hätten Sie das sofort bemerkt. Aber das ist eben der Übelstand bei Briefen. Ich hoffe, es kommt einmal ein Tag, da die Briefe das Bildnis des Schreibers an der Spitze tragen, um auf diese Weise allerlei dunkle Worte aufzuklären. Ich werde dem Baron Kupferstiche schicken, und damit werden wir völlig quitt sein. An dem Brief über Herrn Anquetils Reise wird wohl nicht viel dran sein. Anquetil hat alle guten Eigenschaften eines Reisenden: er ist pünktlich genau, unfähig, irgendein System zu bilden, unfähig zu bemerken, ob etwas nützlich oder unnütz ist. Das ist gerade die richtige Art des Sammeins. Das Sichten ist dann eine Sache für sich. Sein Buch habe ich gesichtet, Ich habe die Bemerkung gemacht, daß die Geschichtsforschung in Asien viel mehr gelitten hat als bei uns. Man kann den Altertümern der Asiaten gar keinen Wert beimessen. Alles ist Sage. Sie haben keinen einzigen Schriftsteller, der über das elfte Jahrhundert zurückgeht. Also ist dieser ganze Zoroaster nur ein Traumgebilde. Das Zend-Avesta hat mit Zoroasters Bibel so wenig Ähnlichkeit, wie unser Brevier mit den Schriften des Moses. Es ist sogar voll von Christentum und Mohammedanismus, so modern ist es. Ich halte das Zend-Avesta für ein Werk des zwölften Jahrhunderts, und die anderen Bücher für noch moderner. Ich beginne zu glauben, daß die alten indischen und chinesischen Werke kaum mehr wert sein werden. Indessen möchte ich recht gerne jetzt die Vedas lesen...


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