Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[73] An Frau von Epinay

Neapel, den 20. Juli 1771

Ist denn nun das, schöne Frau, ein erhabener Brief, wie man ihn in aller Ruhe und mit Behagen schreibt – dieser Brief, worin Sie nichts weiter tun, als daß Sie den Inhalt einer Voltaireschen Rhapsodie angeben, die eine Linguetsche Rhapsodie bekämpft? Und von Ihnen, von Ihren Freunden und meinen, von Ihren Leiden, von Ihrer Verdauung, von den öffentlichen Angelegenheiten, von der Gesundheit des Fräuleins Helvetius und von allem, was wirklich erhaben wäre – davon sagen Sie kein Wort? .... Ah, ich sehe, was los ist! Sie wollen einen Brief von mir haben und wollen wissen, was Sie eigentlich von Cicero zu halten haben? Da haben Sie diesen Brief!

Man kann Cicero als Schriftsteller, als Philosophen und als Staatsmann betrachten. Er war einer der größten Schriftsteller, die es je gegeben hat. Er wußte alles, was man zu seiner Zeit wußte, ausgenommen Geometrie und andere Wissenschaften dieser Art. Als Philosoph war er mittelmäßig; denn er wußte zwar alles, was die Griechen gedacht hatten, und gab es mit wundervoller Klarheit wieder, aber er dachte nichts Neues und besaß gar keine Kraft der Phantasie. Er hatte die Geschicklichkeit und das Glück, der erste zu sein, der in lateinischer Sprache die Gedanken der Griechen wiedergab, und deswegen wurde er von seinen Landsleuten gelesen und bewundert. Aus demselben Grunde hat Voltaire mehr Aufsehen gemacht als Bochart, Bossuet, Huet, Le Clerc, Hammond, Grotius u. a. Alles, was Voltaire auf französisch über die Bibel gesagt hat, haben sie in lateinischer Sprache darüber gesagt; von ihnen weiß man nichts – man spricht nur von ihm. Als Staatsmann hätte Cicero, da er von niederer Herkunft war und emporkommen wollte, sich zur Oppositionspartei schlagen müssen, zu der des »Unterhauses« oder des Volkes, wenn Sie wollen. Das wäre für ihn um so leichter gewesen, als Marius, der Begründer dieser Partei, sein Landsmann war. Er hatte auch Lust dazu; denn er begann damit, daß er Sulla angriff und zu den Mitgliedern der Oppositionspartei, an deren Spitze nach Marius Tode Clodius, Catilina, Caesar standen, freundschaftliche Beziehungen anknüpfte. Aber die Partei der Großen brauchte einen Rechtskundigen und einen Gelehrten; denn große Herren können im allgemeinen weder lesen noch schreiben. Er fühlte also, daß man bei der Partei der Vornehmen ihn nötiger gebrauchte und daß er dort eine glänzende Rolle spielen würde. Er schlug sich zu ihrer Partei, und man sah also einen neuen Emporkömmling unter den Patriziern. Stellen Sie sich doch einen englischen Advokaten vor, den der Hof braucht, um einen Kanzler zu haben, und der sich infolgedessen der Partei des Ministeriums anschließt. Cicero glänzte also an der Seite des Pompejus und der ändern Herren, so oft es sich um juristische Dinge handelte; aber ihm fehlte vornehme Geburt und Reichtum. Und da er kein Kriegsmann war, so spielte er vor allem nach dieser Richtung hin eine untergeordnete Rolle. Im übrigen fühlte er sich durch natürliche Neigung zur Partei Cäsars hingezogen, und er war des Hochmuts der großen Herren satt, die ihn oft genug fühlen ließen, wie groß die Wohltaten waren, womit sie ihn überhäuft hätten.

Feige war er nicht, aber unentschlossen. Er verteidigte keine Verbrecher; aber er verteidigte die Angehörigen seiner Partei, die kaum besser waren als die der Gegenpartei. Der Fall Catilina war ernst, denn er war mit einer großen Partei eng verkettet. Ein Fall Wilkes ist in England niemals geringfügig; in Paris ist er lächerlich. Seine Beredsamkeit war nicht käuflich, ebensowenig wie die des Herrn Pitt; aber sie gehörte seiner Partei. Es ist Unsinn, zu sagen: Gott erlaubte nicht, daß einer seiner Klienten ihn ermordete; denn Gott erlaubt niemals, er handelt, und er handelt stets so, wie es ihm gutdünkt. Voltaire hält uns zum Besten, wenn er von Ciceros Regierung der Provinz Cilicien spricht. Sie hat die allergrößte Ähnlichkeit mit Sancho Pansas Regierung der Insel Barataria. Es handelte sich dabei um eine Kabale, um ihm die Ehre des Triumphes zu verschaffen, wie Herrn von Soubises Heldentaten nur dazu da waren, damit er den Marschallstab erhielte. Cicero bekam jedoch den Triumph nicht, und sein Freund Cato war der erste, der sich dagegen aussprach. Er wollte nicht, daß eine schon zu tief erniedrigte Ehre ganz und gar wertlos würde. Übrigens war Cicero nicht von einer Herkunft, die sich mit der des Hauses Rohan vergleichen ließe. Ob Cicero tüchtig war, weiß man nicht; denn er hat niemals regiert. Bezüglich seines angeblichen Verdienstes, daß er Roms Tore der Philosophie geöffnet habe, ist die Bemerkung angebracht, daß die Oppositionspartei eine Partei von Ungläubigen war; denn die Bischöfe – das heißt die Auguren, Pontifices usw. – waren lauter Lords und Patrizier. Daher griff die Oppositionspartei die Religion an, und Lucrez hatte sein Gedicht vor Cicero geschrieben. Die Partei der Vornehmen unterstützte die Religion; darum war Cicero, der im Grunde seines Herzens sich zur Opposition neigte, nur im Verborgenen ungläubig und wagte nicht, als solcher zu erscheinen. Als Cäsars Partei triumphierte, zeigte er sich offener und bekannte seine Ansichten ohne Erröten. Aber nicht ihm verdankt man die Begründung des heidnischen Unglaubens, der sogenannten Sophia, Weisheit, sondern der Cäsarschen Partei. Daß die Nachwelt dafür Cicero ihren Beifall gezollt hat, kommt daher, daß er zu den Gegnern der Partei gehörte, die später durch die Grausamkeit der Kaiser verhaßt wurde. Hiermit genug von Cicero!...


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