Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[142] An Frau von Epinay

Neapel, den 5. März 1744

Was soll ich Ihnen schreiben, schöne Frau? Mein Bruder liegt im Sterben, und ich erwarte die Nachricht von seinem Tode morgen. Habe ich Ihnen nicht alles gesagt? Wie schrecklich ist es, eine Familie zu haben!

Ein hiesiger Mann wetterte jüngst gegen die Ehe und sagte: »Sehen Sie, was die Ehe ist: denken Sie, daß der liebe Gott gezwungen war, die Todsünde von ihr zu nehmen. Er hat also auf die Waage im Gleichgewicht den Himmel und die Hölle gelegt. Und die Hölle ist leichter erschienen!«...

Linguet und Laharpe haben mich geärgert, anstatt mich zu erheitern; wenn man liest, daß Leute von Geist oder gar, nach ihren Schriften zu urteilen, von Genie, sich durch ihr Benehmen verächtlich oder lächerlich machen, sieht man, daß der Geist nicht der Spiegel der Seele ist und daß die Gefühle, die man schriftlich niederlegt, die Wirkung eines Echos sind und nicht das Erzeugnis des Denkens; das ist sehr betrüblich. Wir leben in einem Jahrhundert, wo es mehr Papageien gibt, als man glaubt. Es gibt so viel schöne geschriebene Dinge, daß ein Mann, der nicht unendlich viel gelesen und ein ungeheures Gedächtnis hat, gar nicht merken kann, woher die Dinge rühren, die er vernimmt. Dies trifft auf Laharpe zu: dieser ist ein Papagei, zweifeln Sie nicht daran; aber sein Gedächtnis ist gut, und unseres ist so schlecht, daß wir es unmöglich merken können, von woher er die Töne nimmt, die uns als Erzeugnisse seines Geistes oder gar seines Genies vorkommen. Übrigens ist er nur ein Sterblicher, und in jeder Hinsicht sehr lächerlich; ich verdanke ihm, daß mir der Spaß vergangen ist, geistreich zu sein.

Haben Sie mich immer lieb. Bedauern Sie mich für den Augenblick; seien Sie sicher, daß ich mich tapfer halte und daß ich meine Vernunft zusammennehme; tun Sie das auch im Hinblick auf Rußland und die Tollheiten der Reisenden. Leben Sie wohl.


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