Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[102] An Diderot

Neapel, den 5. September 1772

Mein lieber Freund,

werden Sie mir's glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich mehrere Nächte von Ihnen geträumt habe, und daß ich gerade diese Woche große Lust hatte, Ihnen zu schreiben? Da erhalte ich von Ihnen ein paar Zeilen, die mir kostbar schon wegen der Schrift erscheinen, und wegen der Hand, die sie aufs Papier geworfen hat: Übrigens sehe ich, daß die Herren Russen Sie zu einem Irrtum verlockt haben. Diese Reise von der ich schon seit drei Monaten durch die englischen und holländischen Zeitungen wußte, ist weder wunderbar, noch ist sie die erste. Der Weg von Kamtschatka nach dem amerikanischen Festland ist zuerst von Herrn de l'Isle gemacht worden. Die Reise von Kamtschatka nach Japan war früher schon unternommen worden, und der übrige Teil des Weges, von Japan nach China, ist sehr bekannt. Diese Entdeckung ist also keine, und die Reise hat gar keinen Zweck. Es wird niemals Handel zwischen China und jenem unglücklichen Lande geben. China ist zu reich und Kamtschatka ist zu arm. Das eine hat nichts zu holen, und das andere hat nichts zu geben. Der wahre Grund, warum dieser Abenteurer die Reise als erster macht, ist der, daß zum erstenmal sich die Gelegenheit bot, sie zu machen.

Indessen freut es mich recht sehr, daß unser Jahrhundert wieder Geschmack an Entdeckungsreisen findet. Die Entdeckung neuer Länder ist das einzige, was den Menschen größer macht und seine Natur und seinen Genius zur Geltung bringt. Doch muß man unwillkürlich sich wundern, wie wenig Mühe es uns kostet, zu Wasser oder zu Lande nach unbekannten Ländern zu gehen, wenn man damit vergleicht, welche Beschwerden unsere Vorväter hatten. Sehen Sie, wie entnervt, verweichlicht, entartet wir sind. Alle Fortschritte der Wissenschaften haben die Rückschritte an Kraft und echter Tapferkeit nicht ausgleichen können. Wir müssen starkes Gewicht legen auf zwei Arten von Reisen: zu Wasser nach den Australländern; zu Lande die Durchquerung Amerikas von Quebec bis an das Meer nördlich von Kalifornien. Dies sind die beiden wirklich nutzbringenden Ziele. Es wäre noch ein drittes da: das Vordringen nach der Mitte von Afrika. Aber das werden wir nicht machen. Die Aufgabe geht über unsere Kräfte.

Sie fragen mich, ob ich den Abbé Raynal gelesen habe? Nein; aber warum nicht? Weil ich weder Zeit noch Lust mehr zum Lesen habe. Ganz allein lesen, ohne einen Menschen zu haben, mit dem man sprechen oder streiten, vor dem man sein Licht leuchten lassen, den man anhören oder von dem man sich anhören lassen kann – das ist unmöglich. Europa ist für mich tot. Man hat mich in die Bastille gesteckt. Ich gehöre jetzt dem vegetabilischen Reich an und sehe mich in einer Wüste, umgeben von Sümpfen, Klötzen und jenen truncus inutile lignum, aus denen ich von Zeit zu Zeit Priape machen sehe. Ich warte, daß an mich die Reihe kommt, und ich bitte Gott, es möge früh genug sein, daß ich noch alle Attribute meiner Göttlichkeit zur Geltung bringen könne. Ich umarme Sie, lieber Philosoph, von ganzem Herzen. Lieben Sie den, der Sie anbetet! Leben Sie wohl!


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