Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[42] An Frau von Epinay

Neapel, den 22. September 1770

Meine schöne Dame, heut bin ich stumpfsinnig, das sage ich Ihnen im voraus. Die Langeweile kriegt mich unter, wie Herrn de Mairan das Wasser unterkriegte. Riefe ich Ihnen zu: erretten Sie mich mit irgend etwas, so würden Sie mir antworten, Sie hätten das schon früher mit einem Briefe getan. Ich bin zufrieden mit dem Heilmittel. Doch ist Ihr Brief vom 2. September nicht allzu heiter. Sie sprechen darin von einem Anfall von Blasengries; das ist nichts. Sie stellen mir eine metaphysische Frage, und Sie schicken mir einen artonomischen Erlaß (wenn Sie nicht Griechisch verstehen, so werde ich Ihnen sagen, daß dieses Wort ›Brotgesetz‹ bedeutet; wenn die Ökonomisten nur ein bißchen Griechisch könnten, so hätten sie dieses recht glückliche Wort schon längst angewandt), und Sie bedrohen mich mit dem Auszug aus einem Buche: all das trägt nicht viel zur Heiterkeit bei und zur Heilung von meinem Stumpfsinn.

So muß ich denn also, trotz meiner Betäubung, auf Ihre metaphysische Frage antworten: Warum bekommt man einen schlechten Begriff von einem Menschen, der den Charakter Lovelaces erschaffen hat? Aus Faulheit. Man hat die Wirkungen der Faulheit des menschlichen Geistes nicht genug studiert. Ich muß eines schönen Tages darüber eine Abhandlung schreiben. Im Grunde steht fest: wenn ich zum Beispiel den Roman von Lovelace lese, so muß ich mir durchaus ein Phantasiebild von diesem Herrn machen. Nun muß von zwei Möglichkeiten eine eintreten: wenn ich glücklicherweise jemand kenne, der mir Lovelace zu ähneln scheint, so nehme ich ihn da in meiner Phantasie für diese Persönlichkeit; dann rettet sich der Verfasser, und ich hasse den Herrn doppelt so stark wie früher. Findet dieses Wesen sich nicht in meiner Phantasie vor, so setze ich, vermöge meiner Geistesfaulheit, den Verfasser an diese Stelle, und er wird die Zielscheibe meines Hasses. Zum Beweise hierfür brauche ich nur anzuführen, daß Macchiavelli seinerzeit seiner Bücher wegen nicht gehaßt wurde, als alle Welt den Herzog von Valentinois kannte. Sobald man nicht mehr an dieses Ungeheuer dachte, erschien Macchiavelli selbst als ein Scheusal. Wären Tiberius und Nero nicht so große Kaiser gewesen, daß es unmöglich ist, sie zu vergessen, so würde Tacitus ebenso verhaßt sein wie Macchiavelli: ich habe Leute gekannt, die Tacitus nicht weniger verabscheuten als Tiberius. Kurz, ich glaube, nach dem Tode des Herrn Malouin wird Molière für einen abscheulichen Arzt gelten. Da haben Sie meine Ideen über diese Frage. Alles ist Wirkung der Faulheit unserer Einbildungskraft: um sich nicht die Mühe zu machen, Prototypen zu suchen (wieder ein griechisches Wort), setzt sie den Verfasser an die Stelle ...

Ihre Tochter ist ebenso reizend wie ihre Mutter. Sagen Sie ihr, sie solle ihren Ring in Ehren halten: er hat durch Zauberkraft die Macht erhalten, gerade entgegengesetzt zu wirken wie der Ring der Ariostischen Angelica. Dieser machte die Anwesenden unsichtbar, meiner macht die Anwesenden sichtbar; aber die Abwesenden haben immer unrecht.

Ich empfehle Ihnen meine Geschäfte, meine Rechnungen, meine Wohltaten, meine Rachepläne und meine Rückkehr nach Paris, wenn diese im Bereich des Möglichen liegt...


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