Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[77] An Frau von Epinay

Neapel, den 31. August 1771

Sie spielen mir, schöne Dame, von Zeit zu Zeit einen schrecklichen Streich. Ich sehe ein dickes Paket von Ihnen ankommen; ich freue mich im voraus; ich erwarte den längsten Brief der Welt, und anstatt etwas von Ihrer Hand für mich zu finden, finde ich, daß Sie für mich etwas von Voltaire haben abschreiben lassen, um es mir zuzuschicken. Wenn ich mich rächen wollte, würde ich ein Stück aus meinem Brevier abschreiben und es Ihnen schicken.

Ich gestehe, das Stück von Voltaire über die »Neugier« ist prachtvoll, erhaben, neu und wahr. Ich gestehe, er hat in allem recht; nur hat er vergessen einzusehen, daß die Neugier eine Leidenschaft oder, wenn sie wollen, eine Empfindung ist, die in uns nur erregt wird, wenn wir uns völlig sicher vor jedem Risiko fühlen. Die geringste Gefahr benimmt uns alle Neugier, und wir beschäftigen uns nur noch mit uns selbst und unsrer eigenen Person. Das ist der Ursprung aller Schauspiele. Verschaffen Sie zunächst den Zuschauern sichere Plätze, dann entfalten Sie vor ihren Augen den Anblick einer großen Gefahr. Alle Welt läuft herzu und beschäftigt sich damit. Das führt auf eine andere wahre Idee: je sicherer der Zuschauer und je größer die Gefahr ist, die er sieht, desto mehr interessiert er sich für das Schauspiel. Dies ist der Schlüssel zum ganzen Geheimnis der tragischen, komischen, epischen Kunst. Zuschauern, die sich recht behaglich fühlen, müssen Leute in der unangenehmsten Lage vorgeführt werden. Darum ist es eine Hauptsache, daß die Zuschauer es auch äußerlich ganz bequem haben; wenn es in die Logen regnete, wenn die Sonne in das Amphitheater hineinschiene, würde das Gebäude leer stehen. Darum muß bei jedem dramatischen, epischen oder anderen Gedicht der Versbau gelungen, die Sprache natürlich, die Ausdrucksweise rein sein. Jeder schlechte, dunkle, verworrene Vers wirkt wie Zugluft in einer Loge. Er bereitet dem Zuschauer Qual, und damit hört das Vergnügen der Neugier gänzlich auf. So hat also Lucrez doch nicht ganz unrecht. Obgleich es unbewußt geschieht und eine Entwicklung des Glücksgefühls in uns nicht stattfindet, wenn die Neugier in uns beginnt, so ist es doch vollkommen wahr, daß sie ohne die Vorbedingung instinktmäßig nicht angeregt wird. Also ist die Neugier eine beständige Folge von Müßiggang, Ruhe, Sicherheit; je glücklicher eine Nation ist, desto neugieriger ist sie. (Darum ist Paris die Hauptstadt der Neugier; Lissabon, Neapel, Konstantinopel haben weniger Neugier oder fast gar keine.) Ein neugieriges Volk ist ein großes Lob für seine Regierung.

Noch eine andere, sehr interessante Beobachtung über die Neugier hätte Voltaire machen müssen: sie ist eine Empfindung, die einzig und allein nur dem Menschen eigentümlich ist, die er mit keinem anderen Tier gemein hat. Die Tiere haben nicht einmal einen Begriff von Neugier. Machen sie vor einer Schafherde, was Sie wollen: wenn Sie sie nicht anrühren, werden sie sich gar nicht um Sie bekümmern. Wenn Tiere irgendein Anzeichen verraten, das Ihnen als Neugier erscheint, so ist es in Wirklichkeit Furcht, und weiter nichts. Man kann Tiere erschrecken, man kann sie niemals neugierig machen. Nun ist nach dem von mir soeben Gesagten Furcht der Gegensatz der Neugier. Wenn es den Tieren unmöglich ist, neugierig zu sein, so ist also der neugierige Mensch mehr Mensch als ein anderer Mensch, und das trifft in der Tat zu. Newton war so neugierig, daß er die Ursachen der Mondbewegung, der Gezeiten usw. suchte. Das neugierigste Volk hat also mehr »Menschen« als irgendein anderes Volk. Da haben Sie die schönste Lobrede, die je auf die Pariser Maulaffen gehalten worden ist! Die Idee ist tief; ich habe leider keine Zeit, auf die Einzelheiten einzugehen. Ganz gewiß hat Voltaire seinen Aufsatz über die Neugier nicht schneller geschrieben als ich. Er hat ihn besser geschrieben, denn er schreibt seine Muttersprache; aber wenn Sie sich die Mühe machen wollen, das von mir flüchtig Hingekritzelte zu entwickeln, so werden Sie sehen, daß damit das menschliche Herz zum großen Teil erklärt ist. Der Mensch als neugieriges Tier, die Empfänglichkeit des Menschen für Schauspiele. Fast alle Wissenschaften sind nur Neugierden, und der Schlüssel zum Ganzen ist, daß das neugierige Wesen von vornherein sicher sein und sich in einer behaglichen Lage befinden muß. Darum läßt Herr de Chaulnes den Papierdrachen steigen und nicht Herr de la Chalotais, obgleich dieser der Gelehrtere von den beiden ist.

Da haben Sie mir also eine richtige kleine Abhandlung entlockt... Guten Abend; ich habe keine Zeit mehr. Ich umarme Sie.

P. S. Voltaire kennt die Tiere sehr wenig. Von Affen und Hunden spricht er wie ein Kind. Der Affe ist durchaus nicht neugierig: er sucht seine Nahrung. Da er keinen Geruchssinn und sehr wenig Instinkt hat, so muß er alles zerbrechen und alles anfassen. Im natürlichen Zustand nährt er sich nur von Früchten und Austern. Er hält also alles für Kokosnüsse, Kastanien, Austern, und er muß alles mit seinen Zähnen zerknacken, um den Kern herauszuholen. Hunde kennen gar keine Neugier; sie haben Furcht, wenn sie noch nicht gewöhnt sind, im Wagen zu fahren, und sie stecken den Kopf zum Schlag heraus, weil sie hinausspringen wollen; da sie aber die Pflastersteine hüpfen und laufen sehen, wagen sie nicht hinauszuspringen und bellen vor Angst. Sind sie einmal daran gewöhnt, so bleiben sie ruhig. Niemals ist irgendein Tier neugierig gewesen!


 << zurück weiter >>