Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[82] An Frau von Epinay

Neapel, den 23. November 1771

Wer hat Ihnen jemals bestritten, daß Sie das Hervorragendste sind, was es in Paris gibt? Wer bestreitet Ihnen, daß der Philosoph für mich der denkbar schlechteste Korrespondent sein würde? Aber darum ist es doch immer nett, mal einen Brief zu erhalten, und wäre es auch nur, um zu erfahren, daß man sich noch immer über die Freiheit des Menschen streitet, und daß es einen Herrn de Valmire gibt, der ganz und gar kein Voltaire ist. Wollen Sie meine Meinung über diese Frage wissen? Auf der Überzeugung, daß es eine Freiheit gibt, beruht das Wesen des Menschen. Man könnte sogar den Menschen definieren als »ein Geschöpf, das sich für frei hält« – und das wäre eine vollständige Feststellung des Begriffes. Herr de Valmire selber ist ein Beweis dafür. Er sagt, der Mensch ist nicht frei. Aber warum sagt er das? Damit man es glaube. Er hält also die anderen Menschen für frei und für fähig, sich zu solchem Glauben entschließen zu können. Es ist dem Menschen durchaus unmöglich, auch nur einen Augenblick seine Überzeugung, daß er frei ist, zu vergessen und aufzugeben. Dies ist ein Grund. Zweitens: wenn man von seiner Freiheit überzeugt ist, ist das dasselbe, wie wenn man wirklich frei ist? Ich antworte: es ist nicht dasselbe, aber es hat dieselben moralischen Wirkungen. Der Mensch ist also frei, weil er innerlich überzeugt ist, frei zu sein, und weil das ebensoviel wert ist wie die Freiheit selbst. Damit ist also der Mechanismus des Weltalls so klar gemacht wie Quellwasser. Wenn es auf der Welt ein einziges freies Wesen wäre, gäbe es keinen Gott mehr, gäbe es keine Verbindungen mehr zwischen den Einzelwesen. Die Welt würde aus den Fugen gehen; und wenn der Mensch nicht stets in seinem innersten Wesen überzeugt wäre, daß er frei ist, wäre es mit der menschlichen Moral anders bestellt. Die Überzeugung, daß wir frei sind, genügt, um ein Gewissen, Reue, Rechtspflege, Belohnungen und Strafen zu schaffen. Sie genügt zu allem. Und damit ist in zwei Worten die ganze Welt erklärt.

Aber – werden Sie mich fragen – wie kann man innerlich von etwas überzeugt sein, wovon einem das Gegenteil bewiesen ist? Genau so, wie man innerlich überzeugt ist, daß zwei unendliche Größen stets einander gleich sind, während durch die Integralrechnung bewiesen wird, daß eine unendliche Größe das Doppelte, das Dreifache einer anderen unendlichen Größe betragen kann. Und so gibt es noch tausend ähnliche mathematische Theorien. So oft das menschliche Gehirn sich von etwas keinen Begriff zu bilden vermag, kann ein erbrachter Beweis sich nicht in Überzeugung verwandeln! Es ist uns unmöglich, uns eine Vorstellung vom Unendlichen zu machen; wir werden also eine Beweisführung, die uns sagt, daß eine unendliche Größe doppelt so groß ist wie eine andere, glauben, aber werden vom Gegenteil überzeugt sein, und wir werden gemäß unserer Überzeugung handeln und nicht gemäß der Beweisführung, die unserer Vorstellung entgegengesetzt ist. Es ist uns unmöglich, uns vorzustellen, daß wir nicht frei seien. Wir werden also beweisen, daß wir es nicht sind; aber wir werden stets so handeln, wie wenn wir es wären. Diese Erscheinung ist folgendermaßen zu erklären: Vorstellungen sind keine Folgen unserer Urteilsbildung, sondern sie gehen dieser voran, sie sind Folgen von Empfindungen. Wir beweisen durch Gründe und Vernunft, daß ein Stock, der ins Wasser gehalten wird, keine gebrochene Linie bildet; die Vorstellung jedoch, wie wir von ihm haben, zeigt ihn uns als gebrochene Linie, weil die Wahrnehmung des Auges uns dies gesagt hat, und weil die Vorstellung der Wahrnehmung des Gesichtssinnes folgt. Zeigen Sie dem Philosophen, was ich hier niedergekritzelt habe; wenn er mich diesmal nicht erhaben, vielleicht sogar neu findet, hat er sehr unrecht. Er wird finden, daß ich meine großen Gedanken sehr schlecht zum Ausdruck bringe, und daß meine Schreibweise wenig französisch ist. Aber ich bin wie der Bourgeois Gentilhomme, der alles kann, außer der Orthographie...


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