Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[98] An Frau von Epinay

Neapel, den 6. Juni 1772

Ihr Brief vom 16. Mai, schöne Frau, trägt die Ortsangabe Neapel, statt Paris. Sie sind also in Neapel. Ich nehme das für ein sehr gutes Vorzeichen und hoffe, es wird in Erfüllung gehen.

Sie sagen mir, ich hätte keine triftigen Gründe, hier zu sein, nur mein Ehrgeiz sei schuld. Ach, wie weit sind Sie da von der Wahrheit entfernt! Ihre Bemerkungen beweisen mir immer mehr, was ich stets schon glaubte: ein Franzose, und sei er noch so klug, kann sich niemals einen Begriff von einem Lande machen, das anders ist als Frankreich. Ich will jedoch versuchen, Ihnen eine Vorstellung von dem meinigen zu geben. Sie müssen wissen, wenn ich Neapel verließe, könnte ich in Paris betteln gehen. Zunächst müßte ich mein ganzes Gehalt aufgeben, und dies bildet die Hälfte meines Einkommens. Aber mir bleiben doch, werden Sie sagen, mindestens 6000 Francs Einkünfte aus meinen Abteien. O nein! Ich würde auch diese verlieren. Man würde mir zwar die Abteien nicht wegnehmen; aber es würde keinem meiner Pächter einfallen, mich zu bezahlen. Wir leben hier in einem solchen Zustand von Anarchie, daß niemand die Gesetze der Gerechtigkeit fürchtet; aber dafür fürchtet man die Ungerechtigkeit, und da ich Beamter bin, kann ich Unrecht zufügen. Man fürchtet mich, man bezahlt mich. Man bezahlte mich auch, als ich in Paris war, weil ich im Dienst des Königs dort war und weil man einsah, daß ich als Beamter zurückkehren könnte; aber wenn ich den Dienst aufgäbe, würde kein Mensch mich bezahlen, denn meine Einkünfte stammen von Abteien, das heißt von Landgütern in entlegenen Provinzen. Ein Franzose kennt solche Unsicherheit nicht, noch weniger ein Engländer. Wo er auch sein mag, die Justiz seines Landes beschützt sein Grundeigentum. Hier ist man nur sicher aus gewissen Rücksichten. Man muß gefürchtet sein, um etwas in der Gesellschaft zu gelten. Sie sehen also, ich kann nicht von hier weg, wenn ich nicht in Paris sechzigtausend Franken finde. Finden Sie die, und nennen Sie mich ein Scheusal, wenn ich nicht komme ...

Meine Leichdörner seufzen nach Ihren Briefen. Ich vereinige meine Gebete mit den ihrigen. Obwohl sie ihrer Natur nach ein hartes Herz haben, werden sie Sie über alle Maßen lieben, wenn Sie das Mittel finden, sie zu erweichen.

Unsere Königin hat vorige Nacht um halb zwei Uhr tapfer ein kleines Mädchen gekriegt; besser als nichts. Wir haben hier eine Heilige, die auf Wunsch des Erzbischofs wegen der Unruhe, die sie verursachte, ausgewiesen wurde; die hatte prophetzeit, die Königin werde am sechsten Mai um halb zwei Uhr in der Nacht niederkommen. Sie hat Tag und Stunde vollkommen richtig erraten, nur im Monat hat sie sich geirrt. Sagen Sie mir, muß man diese Weissagung zu den guten rechnen? Ich für meinen Teil finde sie gut; denn den schwierigsten Teil der Aufgabe hat sie gelöst, nämlich die Bestimmung von Tag und Stunde. Geben Sie Ihr Urteil darüber!

Sie sagen mir recht wenig Worte über meinen Frauen- Dialog. Sagen Sie mir Gutes oder Schlechtes darüber, aber elektrisieren Sie mich. Schweigen ist eine Art Verachtung, die meine Dialoge nicht verdienen. Leben Sie wohl; umarmen Sie alle meine Freunde. Guten Abend.


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