Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[67] An Frau von Epinay

Neapel, den 4. Mai 1771

Meine schöne Dame,

den ganzen März und April litt ich unter einer Traurigkeit, einem Albdrücken, einer sicheren Todesahnung, die ich Ihnen gar nicht beschreiben kann. Nur ihr ändern könnt wissen, ob ich richtig geahnt habe; denn ich selber werde ja, wenn ich tot bin, nicht einmal das Vergnügen haben, mir zu sagen, daß ich mit meinen Vorgefühlen recht hatte. Deshalb sind meine Briefe so traurig. Übrigens habe ich weiter kein Unglück, keine Qual, keinen Grund zum Traurigsein, als daß ich Sie im Jahre 1771 mitten in Paris sehe. Es hat mich ein bißchen geärgert, daß Sie in bezug auf Ihren Lebensunterhalt keinen andern Ausweg gefunden haben, als sich in die Bastille stecken zu lassen, anstatt an eine Reise nach Neapel zu denken. Ist denn sogar die Bastille noch besser als Neapel?

Ich weiß nicht recht, womit ich meinen Brief füllen soll. Ich könnte allerdings fortfahren, Ihnen von dem schönen Buch zu erzählen, das ich für Grimm schreiben will und das die Geschichte des Jahres 1900 enthalten soll; aber ich bin so müde von all dem Amtieren, das mir heute oblag! Ich habe kaum soviel Zeit, Ihnen einige Kapitel von der Fortsetzung mitzuteilen.

Die Modewissenschaften jener Zeit werden Physik, Chemie und Alchemie sein, vermischt mit viel Geometrie, und es wird Narren geben, die da sagen werden, wenn man nur erst die Quadratur des Kegelschnitts gefunden habe, so werde man den Stein der Weisen haben oder auch hämmerbares Glas. Aus der Verbindung wahrer Wissenschaften wird man eine Afterwissenschaft ableiten, die nur aus hohlen Worten besteht, oder aus Gemeinplätzen, die durch große Worte dunkel gemacht sind. Theologie, Altertumsforschung, Gelehrtensprachen wird es nicht mehr geben. Französisch wird die allgemeine Umgangssprache sein, und Slawonisch die Hofsprache. Was die Rechtswissenschaft anbelangt, so werden alle Nationen Europas ihr besonderes Gesetzbuch haben, und das römische Recht wird abgeschafft sein. Indessen wird man über den »Geist der Gesetze« so gründlich disputieren, daß man die Gerichtspraxis aus den wunderbarsten Quellen ableiten wird, wie zum Beispiel aus dem Geist der Verfassung einer jeden Nation und aus der Grundordnung aller Dinge. Die Pedanterie wird sich Montesquieu und mich zum Muster nehmen, wie sie sich früher Aristoteles und die Peripatetiker zum Muster nahm.

Die freien Künste. – Die Schiffahrt wird sehr vernachlässigt sein; es wird sehr wenig Handel geben und zwar fast nur zu Lande und auf kurze Entfernungen; denn jede Nation wird ihre Landwirtschaft und Industrie so sehr vervollkommnet haben, daß sie sich selber genügt, und die dummen Gesetze, die die Ausfuhr begünstigen und die Einfuhr hemmen, werden jeglichen Handel zerstört haben; denn wenn jeder verkaufen und niemand kaufen will, kommt es schließlich dahin, daß keiner mehr etwas verkauft oder kauft. Alia die; guten Abend. Ich umarme Sie und bin usw.


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