Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[96] An Frau von Epinay

Neapel, den 23. Mai 1772

Schöne Frau,

Ihr Brief vom 2. war für mich ein Abgrund voll von moralischen und philosophischen Betrachtungen. Ich bin grade wie der kleine Prophet von Böhmischbroda: ich treibe Metaphysik, wenn ich traurig bin. Ich finde, die Achtung des Nächsten ist ein Gefühl, das uns von Natur widersteht wie das Ipecacuanha; wir schlucken es gewaltsam hinunter, und unser Magen möchte es sobald wie möglich wieder von sich geben.

Ich finde ferner, daß Bewunderung etwas ganz anderes ist als Achtung. Man bewundert einen Seiltänzer, ohne ihn zu achten; man achtet Herrn de Mairan, ohne ihn zu bewundern. Bewunderung ist ein Gefühl, wofür wir Geschmack und Neigung haben; es widersteht uns nicht, sondern gefällt uns, gefällt uns sogar zu sehr. Daher haben die Menschen weniger Achtung vor ihrem Nächsten als nötig wäre, und zuviel Bewunderung für ihn. Aber warum? Suchen wir den Grund. Es geschieht, weil wir stets uns selber achten und niemals uns selber bewundern. Der Seiltänzer macht seine Kunststücke mit solcher Leichtigkeit und natürlicher Geschicklichkeit, daß er sich höchstens wundert, warum nicht andere dasselbe machen wie er. Daher kann er sich innerlich niemals bewundern. Aber er achtet sich. Die Bewunderung ist eine Wirkung der Vergleichung der Kraft; die Achtung entsteht durch Vergleichung der Vernunft. Nun glaubt stets ein jeder Mensch mehr Vernunft zu haben als alle anderen; aber solange er es nicht selber versucht hat, glaubt er weniger Kraft und Geschicklichkeit und Talent zu haben als andere. Diese Furcht, zu schwach zu sein, ist die sogenannte falsche Scham, die eine hohe Schätzung der eigenen Person nicht ausschließt. Zum Beispiel : ein Fräulein von fünfzehn Jahren, das aus falscher Scham keine Verbeugung machen kann, glaubt genug Vernunft zu haben, um ein entscheidendes Urteil dahin abzugeben, daß der Stand einer Nonne besser sei als der einer verheirateten Frau; und Sie werden sie niemals überzeugen, daß sie unrecht hat...

Ihren Brief erhielt ich zusammen mit dem ihrer Tochter. Zum Glück öffnete ich den Ihrigen zuerst; so erfuhr ich Ihre Genesung, ehe ich noch ein Wort von der Krankheit wußte. Sie sehen, die Postverspätungen sind manchmal doch zu etwas gut. Übrigens sind Ihre Briefe jetzt erstaunlich billig: sie kosten jetzt nur drei Soldi. Um dieser Billigkeit willen müssen wir schon etwas Langsamkeit in den Kauf nehmen. Aber ich möchte wohl wissen, auf welchem Wege die Briefe gehen. Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube, sie kommen von Rom mit der spanischen Post.

Sie hätten mir wohl etwas über meinen »Dialog über die Frauen« sagen können. Sie mußten bewundern, wie schnell ich damit niedergekommen bin, und besonders welch lebhafte Erinnerung an Paris und die Kreise, in denen ich lebte, ich mir bewahrt habe. Wirklich, das Gespräch klingt nicht nach einem, der Sie seit vollen drei Jahren nicht gesehen hat. Man könnte glauben, ich hätte abends mit Ihnen, dem Marquis, Grimm und Konsorten gespeist und hätte dann bei mir zu Hause gleich das Gespräch niedergeschrieben. So groß ist meine Leidenschaft für Paris, für Sie, für meine Freunde...


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