Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[109] An Herrn Baudouin

Neapel, den 28. November 1772

Verehrter Herr und lieber Freund!

... Sie lieben mich also noch, und nichts ist für mich angenehmer und schmeichelhafter. Außerdem, was soll ich Ihnen noch sagen? Das beste an meinen bösen Gesprächen war ganz gewiß das Motto: in vitium ducit culpae fuga, si caret arte. Der Herr Generalkontrolleur sieht, daß der Kahn sich nach der einen Seite neigt und kippt ihn nach der anderen um: er will die Ausfuhr verhindern und zerstört den Binnenhandel. Er führt besondere Erlaubnisscheine wieder ein, er stellt die Willkür, das Grundübel aller Monarchien, wieder her. Dies alles ist jedoch nur die Wirkung des allerersten Fehlers: nämlich zu verlangen, daß der Getreidehandel entweder ganz und gar frei, oder gänzlich verboten sein sollte. Nehmen Sie an, man hätte mein System angenommen, dann wäre es so gekommen: man würde zum Beispiel in Le Havre Getreide laden und erklären, es sollte nach Bordeaux geliefert werden. Die Ausfuhr bezahlt eine Gebühr, der Binnenhandel bezahlt keine. Da man jedoch der Ehrlichkeit des Händlers nicht sicher ist, läßt man ihn zunächst einmal in Le Havre die Ausfuhrgebühr bezahlen oder fordert eine Sicherstellung von ihm. Wenn er nach einigen Monaten von der Zollbehörde in Bordeaux die Bescheinigung beibringt, daß er ebensoviel Korn eingeführt hat, wie er aus Le Havre ausgeführt hatte, so gibt man ihm sein Geld zurück oder entläßt ihn aus seiner Bürgschaft. Sonst nimmt man an, daß er das Getreide ausgeführt hat. Der Händler wird bei seinen Spekulationen stets mit einer Ausfuhrgebühr zu rechnen haben; diese unvermeidliche Gebühr wird auf seine Lust, Getreide auszuführen, hemmend einwirken und wird ihm eine Lieferung nach den französischen Provinzen stets vorziehbar erscheinen lassen. Den Kolonien gegenüber wird man ebenso verfahren, ohne zu einem System besonderer Erlaubnisse zu greifen. Das alles wird sich auf die einfachste Art von der Welt vollziehen, sobald man nur eine Ausfuhrgebühr festgesetzt hat – eine heilsame Gebühr, ohne die der Getreidehandel niemals frei sein wird, niemals geduldet werden kann. Leider sehe ich, daß ich mich nicht irrte, als ich den Herren Ökonomisten, die mit allen ihren Evidenzen keine Ahnung davon haben, sagte, daß der Exporthandel oftmals der Versorgung einer entlegenen Provinz würde vorgezogen werden, daß man den Feinden Brot liefern würde, bevor die Hausgenossen welches hätten, Herr Abbé Ribaud oder Roubaud sagte, er kenne keine Feinde, alle Menschen seien Brüder. Das ist recht christlich und recht wenig politisch. Jedenfalls scheint mir die Sache für Frankreich auf lange Zeit hinaus verpfuscht zu sein; man wird weder das System der Ökonomisten noch das meinige befolgen. Man wird das natürliche System aller Monarchien befolgen: besondere Erlaubnisse, Gunstbewilligungen vom Hofe, Unternehmungen der Ausfuhrhändler, ein Federzug eines Intendanten, ein Krähenfuß eines Staatsministers. Frankreich indessen wird bestehen, da es schon acht Jahrhunderte lang auf diese Weise bestanden hat. Man wird sehen, daß in physischer Beziehung sich nichts geändert hat, und man wird glauben, daß es auf moralischem Gebiet ebensowenig der Fall sei. Man wird sehen, daß die Kastanienbäume der Tuilerien zum Frühjahr sich wieder neu belaubt haben, und man wird nicht bemerken, ob die Leute, die unter ihnen lustwandeln, Mitglieder des alten oder des neuen Parlaments sind. Es ist ein natürlicher Fehler des Menschen, das Physische mit dem Moralischen zu verwechseln; ich wundere mich darüber nicht. Die physische Wirkung folgt unmittelbar auf die Ursache; die moralische Wirkung liegt in weiter Ferne. Ein Gewitter bricht los und entwurzelt im Augenblick die Weinstöcke; man macht einen politischen Fehler in bezug auf den Weinhandel, und man muß zwei oder drei Generationen abwarten, um zu sehen, daß diese unglückselige Steuer, dieser »Zuvielverbrauch« mehr Weingärten entwurzelt hat als alle Gewitter zusammen.

Ihr werdet also weiter existieren, und nicht einmal eine Veränderung bemerken, obwohl ihr den Angelpunkt eurer Freiheit verloren habt: die Käuflichkeit der Richterämter. Sie werden künftighin nicht weniger käuflich sein – nämlich sie werden durch Gunst vergeben werden; aber sie werden nicht mehr erblich und unahängig sein. Dieser Streich genügt, um im Laufe eines Jahrhunderts Frankreich und die Franzosen völlig zu verändern. Wenn es euch gelänge, die Käuflichkeit nach dem alten System wiederherzustellen, so verlassen Sie sich darauf, das bisher Geschehene wird keinen Schaden angerichtet haben. Im Gegenteil, es wird dazu gedient haben, die gesunde Vernunft in der Politik wieder zu Ehren zu bringen und inhaltsleere Systeme zu zerstören – genau so wie der Jansenistenstreit nach achtzigtausend lettres de cachet dahin geführt hat, die gesunde Vernunft in der Religion wieder zu Ehren zu bringen. Aber wenn ihr im jetzigen Zustande verbleibt: mit wenigen absetzbaren, nicht erblichen Beamten, so geratet ihr in die Knechtschaft der Juristen, wie mein Vaterland, wie Spanien, wie Portugal. Sie ist weniger hart wie die der Soldaten: unter dem Römischen Reich, unter dem Türken, bei den Orientalen; sie paßt besser für ein Volk mit geordneten Zuständen, es ist eine langsam sich bemerkbar machende und gelinde Knechtschaft. Sie kennt nicht wie die militärische Knechtschaft das Hilfsmittel einer Revolution und die Aussicht auf eine solche. Sie vertrocknet und verzehrt die Vernunft einer Nation; abgesehen davon verursacht sie scheinbar keine Wirkung von irgendwelcher Bedeutung. Aber ist es ein so großes Unglück, dumm zu leben und dumm zu sterben? Diese Frage zu lösen, seid ihr berufen...


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