Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[113] Frau von Epinay an Galiani

12. Januar 1773

Sie sagen, mein lieber Abbé, Sie haben keine Stimmung und Laune mehr, und dabei schreiben Sie den lustigsten und närrischsten Brief, den ich – glaube ich – je von Ihnen erhalten habe. Alles, was Sie mir über meine Leidenschaft für Herrn de Mocenigo sagen, ist zum Kranklachen und hat uns einen köstlichen Abend bereitet; mein heutiger Brief wird ein bißchen ernster sein. Zunächst will ich wegen der Aufträge antworten, die Sie mir gegeben haben; Sie wünschen das Buch des Herrn Thomas so schnell wie möglich zu haben. Am schnellsten geht es mit der Post; aber ich wage es nicht auf mich zu nehmen, Ihnen eine so beträchtliche Portoausgabe zu machen, ohne einen bestimmten Auftrag dazu von Ihnen erhalten zu haben. Der Preis des Buches kommt nicht in Betracht; denn ich glaube, ein solches kostet nur fünfzig Sous oder einen Taler; wenn ich es selber besäße, würde ich es herzlich gern Ihnen schenken; ganz gewiß werde ich es niemals wieder lesen. Sollte sich, bevor ich Ihren Bescheid erhalten, eine sichere Gelegenheit bieten, so werde ich diese benutzen.

Mein Nachbar glaubt nicht, daß die Reise der dänischen Gelehrten in Arabien in französischer Sprache in Paris erschienen ist; ich werde Baron Holbach danach fragen, der mich ziemlich regelmäßig besucht, seitdem ich krank bin, und werde dafür sorgen, Ihnen Nachricht zu geben, sobald es erscheint.

Ich muß Ihnen von einem neuen Werk erzählen, das in Holland gedruckt ist; es heißt: »Soziales System oder natürliche Prinzipien der Moral und der Politik mit einer Untersuchung über den Einfluß der Regierung auf die Sitten«. Es ist eine Vorrede zum »System der Natur« und, wenn Sie wollen, eine Weiterentwicklung des im letzten Winter erschienenen Buches: »Die öffentliche Glückseligkeit«. Der Verfasser sucht zu beweisen, daß eine Regierung notwendiger und unvermeidlicher Weise vollkommen werden und alle Menschen glücklich machen muß, wenn die Nation jedes Irrtums und jedes Vorurteils entledigt ist. Es ist gut geschrieben; alles ist klar ausgedrückt; aber es enthält keine einzige neue Idee, und alle darin ausgesprochenen Wahrheiten sind jetzt so allgemein anerkannt, daß es eigentlich nicht der Mühe verlohnte, daraus ein Buch zu machen. Übrigens finde ich, daß die Ideen des Verfassers, wenn sie auch nicht geradezu falsch sind, doch zum mindesten um einen Strich von der genauen und vollkommenen Richtigkeit abweichen; eine Idee, die an und für sich wahr ist, wird falsch, wenn man ihr eine gewaltsame Ausdehnung gibt. So z. B. sagt er:

»Man macht aus dem Menschen alles, was man will.« – Das ist richtig, wenn man eine große Masse von Menschen im allgemeinen nimmt. Aber hierauf sagt er weiter: »Der größte Verbrecher hätte ein Ehrenmann werden können, hätte ihn das Schicksal von tugendhaften Eltern, unter einer weisen und aufgeklärten Regierung geboren werden lassen; hätte es ihn in seiner Jugend unter ehrenhafte Menschen gestellt. Der große Mann, dessen Tugenden wir bewundern, wäre weiter nichts als ein Räuber, ein Dieb, ein Mörder geworden, wenn er immer nur mit Leuten solcher Art verkehrt hätte usw.« Das ist nicht mehr wahr. Ganz gewiß paßt sich der Mensch an; aber er bleibt immer, wie die Natur ihn geschaffen hat. Und wenn die Umstände einen Menschen im Laufe seines Lebens zur Tugend bekehren, so wird er abwechselnd tugendhaft und ruchlos sein. Alle Folgewidrigkeiten und alle Widersprüche, die man am Menschengeschlecht bemerkt und von denen kein Individuum ausgenommen ist, erklären sich aus folgendem: die natürliche Anlage liegt in beständigem Kampf mit den Neugestaltungen, die es durch die Umstände erleidet.

An einer anderen Stelle sagt er: »Nehmt aus einem Dorf einen dummen und feigen Bauernlümmel, und ihr könnt in sechs Monaten einen tapferen Soldaten aus ihm machen; er wird Korpsgeist angenommen haben, er wird Achtung vor sich selber haben und, wenn es nötig sein sollte, frohen Mutes in den Tod gehen.« Auch dies ist, im allgemeinen gesprochen, richtig; die Behauptung ist nicht mehr richtig, wenn man sie auf jeden einzelnen beziehen will; denn wenn sie es wäre, gäbe es keinen Feigling.

Der Verfasser des »Sozialen Systems« scheint, ebenso wie der der »Öffentlichen Glückseligkeit«, überzeugt zu sein, daß die Menschen nur aufgeklärt zu sein brauchen, um vollkommen glücklich zu sein. Überall finde ich bei beiden den Fehler, daß sie ihre Ideen verallgemeinern; aber unser Verfasser spricht sich viel bestimmter aus als der Chevalier. Zweifelsohne tut man sehr wohl daran, den Menschen zu predigen, daß sie ihre Vorurteile und Irrtümer abtun und die Erziehung vervollkommnen sollen. Aber wenn man glaubt, daß die Menschen durch ihre Aufklärung besser oder gar vollkommen werden, daß die Leidenschaften jedes einzelnen nur dank der Erleuchtung durch die Vernunft sich vor den Spekulationen der Philosophie beugen werden, so ist das eine schöne Chimäre, und die tiefgründigen Erörterungen der Herren sinken auf ein Niveau mit den rhetorischen Ausarbeitungen und Redeübungen unserer jungen Philosophiestudenten. Sie werden niemals mit dem Anfang anfangen: nämlich den Menschen in seiner Natur untersuchen und sich wohl vor Augen halten, daß er stets so sein wird, wie er gewesen ist; hierauf die Natur einer Masse von Menschen von der Natur eines Individuums unterscheiden. Die Natur einer Menschenmasse nenne ich das Ergebnis alles dessen, was das Wesen des durch Örtlichkeit, Klima usw. beeinflußten Nationalcharakters ausmacht; dann können wir sagen, wie Herr Gobe-Mouche: »Meine Herren, meine Herren, verständigen wir uns: von der und der Nation will ich Ihnen sprechen.« Aber sie machen es wie die Frau Prokurator von Courbevoie, die Paris nach ihrem Städtchen beurteilte. Sie regieren die Welt nach den Schicklichkeitsbegriffen und Einsichten einer Gesellschaft, eines Häufleins von hundert Personen. Wenn man von den Vorzügen einer Regierung spricht, muß man diese oder jene Nation im Auge haben; denn eine ganz vollkommene Regierung für die Menschen im allgemeinen bilden zu wollen, das ist leeres Gerede, das sind unbestimmte Ideen, die zu nichts führen können. Aber ich will einmal für einen Augenblick annehmen, die Herren hätten das Unmögliche, eine vollkommene Regierung, gefunden; dann müßten sie noch, um sie vollkommen zu erhalten, Josuas Talent haben, die Sonne und den Gang der Ereignisse aufhalten zu können. Der Zustand der Vollkommenheit ist bei allem nur ein Punkt. Ist dieser Punkt erreicht, so muß eine Abnahme beginnen.

»Unsere gute oder schlechte Aufführung«, sagt der Verfasser ferner, »hängt stets von den wahren oder falschen Begriffen ab, die wir uns machen oder uns von anderen beibringen lassen.«

Unsere gute oder schlechte Aufführung, Herr Verfasser, hängt stets von unserem Temperament und von dem mehr oder minder starken Antrieb zu diesem oder jenem ab, und nur unser eigenes Bewußtsein von unserer Aufführung »hängt von den wahren oder falschen Begriffen ab, die wir uns machen oder uns von anderen beibringen lassen«.

Trotz allen meinen kritischen Aussetzungen ist das Buch das Werk eines großen Denkers und eines Freundes der Menschheit. Er gefällt sich ein bißchen zu sehr darin, die Leiden aufzuzählen, die ihren Grund in Vorurteilen und theologischen Meinungen gehabt haben, haben und haben werden. Aber seinen Eifer muß man loben und Sie meine Kritik. Buona sera, carissimo.


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