Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[80] An Frau Geoffrin

Neapel, den 19. Oktober 1771

Madame,

ich wäre aber wirklich ein Ungeheuer an Undankbarkeit und Grausamkeit, wenn ich Ihnen nicht schriebe. Herr Bérenger ist angekommen; er hat mir so viel von Ihnen erzählt, und ich habe ihm so viel von Ihnen gesprochen. Er hat mir gesagt, Sie hätten mich so lieb, daß Sie ihn eigens beauftragt hätten, mir dies zu versichern. Da habe ich schließlich bei mir selber gedacht: nun ist endlich der Zeitpunkt da, daß ich an meine liebe Madame Geoffrin schreiben kann; wenn sie meinen Brief bekommt, wird sie weniger Bedauern über meinen Verlust empfinden als Freude darüber, daß sie mich wieder hat. – Da bin ich also immer noch derselbe, der Abbé, das Abbechen, Ihr Dingelchen. Ich sitze in dem guten Lehnstuhl, strample wie ein Verrückter mit Händen und Füßen, die Perücke schief hinter dem einen Ohr, rede viel und sage Sachen, die man gottvoll fand und mir zuschrieb.

Ach, Madame, welch ein Irrtum! Nicht ich sagte alle diese schönen Sachen! Ihre Lehnstühle sind Dreifüße Apolls, und ich war die Sibylle; seien Sie überzeugt, auf den neapolitanischen Strohstühlen sage ich nur Dummheiten. Aber kommen wir zu unseren Angelegenheiten.

Da ich bei Ihnen bin, fragen Sie mich ganz gewiß, was ich mache und ob ich glücklich bin. Sie wollen wissen, in welcher Lage Ihre Freunde sind; Sie wollen, daß man Ihnen nichts vorlügt, und Sie wollen mit aller Gewalt von ihnen hören, daß sie glücklich sind. Da verlangen Sie recht viel. Indessen kann ich Ihnen versichern, ohne mein Gewissen mit einer Lüge zu beschweren: ich bin glücklich. Ich habe allerdings in den letzten zwei Jahren zwei schwere Verluste erlitten: ich verlor Paris und meine Zähne. Aber schließlich war ich ja kein geborener Franzose. Gott hatte den Einfall gehabt – warum, weiß ich nicht recht – mich in Neapel geboren werden zu lassen. Da er es nun mal so will, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Meine Zähne sind mir untreu geworden, aber ich habe ja auch nicht mehr nötig zu sprechen; kein Mensch versteht mich hier, und kein Mensch hat Lust mir zuzuhören. Nur selten einmal kann ich bei einem guten Diner meinen Gaumen laben, und wenn ich ein Makrelendrittel forderte, würde niemand mir es geben können.

Um mich noch besser wegen des Verlustes meiner Zähne zu trösten, bin ich darauf verfallen, mein Gebiß mein Parlament zu nennen. Wenn man sich bei mir danach erkundigt, sage ich, ich habe alle die Herren fortgeschickt, habe die Stellen meiner Backenzahnpräsidenten eingehen lassen und esse trotzdem. Kein Mensch versteht mich, außer mir selber; ich aber bin endlich zu der Überzeugung gelangt, daß meine Zähne keinen wesentlichen Teil meiner Maschine bildeten. Aber Sie hören nicht gerne von solchen Dingen sprechen; also Schluß. Im übrigen habe ich eine gute Gesundheit, eine gute Wohnung, ein gutes Gehalt, eine recht geachtete Stellung, nicht allzuviel zu tun und leidliche Freiheit, zu tun, was ich will. Verwandte habe ich nicht; denn mein Bruder und meine Familie sind abwesend, und ich bin fröhlich und guter Dinge, trotz Klima, Boden, Alter und Amt. Mit Neapolitanern verkehre ich gar nicht; ich gehöre gewissermaßen zum diplomatischen Korps. Man hat sich gewöhnt, mich als ein Mitglied desselben anzusehen, und würde sich wundern, wenn ich zu einem Botschaftsdiner nicht eingeladen würde. Es sind lauter alte Freunde von mir; alle haben Paris gesehen und sprechen oft davon. Der Wahrheit gemäß muß ich freilich gestehen, ich langweile mich ein bißchen; in meinem Herzen hat sich ein Keim von Ehrgeiz entwickelt, von dessen Vorhandensein ich nichts wußte. Das hat mich darauf gebracht, über das Wesen des Ehrgeizes nachzudenken, und da habe ich folgendes entdeckt: Der Ehrgeiz ist das älteste Kind der Langeweile (darum trifft man in Klöstern so viel Ehrgeiz) und der Vater der Heuchelei; die Heuchelei erzeugt mit dem Zwang eine zweite Langeweile, die also eine Urenkelin der ersten Langeweile ist und mit ihrer Urgroßmutter gar keine Ähnlichkeit hat. Diese ist eine sanfte, ruhige, einschläfernde Langeweile; die zweite dagegen ist zehrend; man stirbt zuletzt daran. Ich leide also an der ersten Langeweile, aber nicht an der zweiten; denn mein Ehrgeiz hat nicht die Kraft gehabt, die Heuchelei zu zeugen; meine Natur hat sich zu sehr dagegen gesträubt. Meine Aussprüche werden sich also nicht erfüllen, aber ich werde lange leben, wenn ich nicht an Magendrücken sterbe, oder an verhaltenen Worten; denn daran leide ich augenblicklich. Sollte ich jedoch die Kraft haben, zu schreiben, und Sie die Güte, mir zu antworten, so würde ich nicht sterben, ich würde in Paris plaudern, ob ich gleich in Neapel sitze.

Also antworten Sie mir, wenn Sie wünschen, daß ich am Leben bleibe...

Ich habe Ihnen meinen Zustand wahrheitsgemäß geschildert; erzählen Sie mir jetzt von dem Ihrigen.

Was machen meine Freunde? Was macht Madame Geoffrin? Was macht Madame de la Ferté-Imbault? Wie steht es mit den Mittwochabenden? Ich kann mir einen Mittwoch ohne mich gar nicht vorstellen; denn bei allen, die ich sah, war ich selber dabei. Ißt man noch die Garbure? Ich habe keine mehr gegessen. Könnten Sie mir das Rezept schicken? In der Enzyklopädie unter »Garbure« steht nichts; ich habe vergebens danach gesucht. Diderot hat den unverzeihlichen Fehler begangen, sie auszulassen. Machen Sie immer noch Burigny wild? Was macht mein Abbé Morellet? Hat er mich lieb? Ist er überzeugt, daß er niemals ein richtiger Ökonomist sein wird? Er ist zu klug und vernünftig, um den Anführer einer Sekte zu spielen, wo man die Proselyten tauft, indem man sie in eine Art von metaphysischer Tinte untertaucht, die mit politischem Kaminruß zubereitet ist; für ihn ist das zu schwarz und zu qualmig. Wie geht es Herrn und Frau de Sartine? Welch ein Mann! Welch eine Frau! Ich las in einer Zeitung, Herr und Frau de Trudaine seien in Brüssel. Wie befinden sie sich? Wollen Sie so gut sein, Herrn de Cossé zur Ernennung seiner Gemahlin meinen Glückwunsch auszusprechen? Sie hat recht daran getan, einen Platz bei Hofe anzunehmen, da ihr Gemahl doch einmal dort bleiben muß. Was macht mein lieber Nuntius? Was kostet ihn die Miete in der Brust des Papstes? Er hat Pech mit seinen Wohnungen. Bei Herrn de Broglie hatte er sehr wenig Platz, aber beim Papst ist er noch enger untergebracht. Das Papier ist zu Ende. Sie sehen, ich bin immer noch ein großer Redebold; ich habe mich also nicht geändert; ich liebe Sie also immer noch rasend, und ich bin Ihr usw. usw.


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