Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[136] An Frau von Epinay

Neapel, den 6. Novemiber 1773

Vorige Woche war ich nicht imstande, Ihnen zu schreiben; mein Bruder lag im Sterben. Jetzt geht es ihm ein wenig besser, und die Dauer der Krankheit berechtigt zu Hoffnungen.

Zum Glück haben Sie mir am letzten Posttag nicht geschrieben; ich habe also immer noch Ihre Nr. 48 zu erledigen, und die ist nicht von Stroh. Sie stellen mir politische und metaphysische Fragen, deren Erledigung einen ganzen Band erfordern würde. Gott weiß also, ob ich sie beantworten werde. Aber ganz gewiß werde ich Ihnen recht geben, wenn Sie behaupten, daß die Politik der Alten für uns gar nichts mehr bedeuten kann. Die unsrige muß davon sehr verschieden sein. Abgesehen von einigen allgemeinen Theorien, die dieselben geblieben sind, hat sich alles geändert; die Einzelheiten sind ganz verschieden. Nun aber sind »allgemeine Theorien« und »Nichts« ungefähr dasselbe. Die Ökonomisten glaubten, mit vier unbestimmten großen Redensarten und einem Dutzend allgemeiner Schlußfolgerungen wisse man alles, und ich habe ihnen bewiesen, daß sie nichts wußten. Wenn also Ihr Kollege nicht zugeben will, daß nur die Kenntnis der Einzelheiten von praktischem Wert ist, und wenn er nicht zugibt, daß die Einzelheiten der modernen Staatsverwaltung mit denen der antiken gar keine Ähnlichkeit haben, so sagen Sie ihm, er sei ein Ökonomist, und schmettern Sie ihn damit zu Boden. Lykurg und Solon sind nur mit Sankt Franziskus, Sankt Ignatius, Sankt Dominikus zu vergleichen; mit Mazarin, Colbert, Richelieu, Zar Peter, Viktor Amadeus, Georg II., Friedrich haben sie nichts gemein. In diesen religiösen Orden und in diesen kleinen Republiken ist die Politik weiter nichts als die Wissenschaft der Erziehung in einem etwas größeren Maßstabe. In den großen Republiken ist es etwas anderes. Wie die Kultur eines kleinen Weinbergs der Romagna sehr verschieden ist von der Kultur des Forstes von Rambouillet, so sind auch die Mittel, den Nutzen aus diesen beiden Objekten zu ziehen, sehr verschieden. Sie haben also meines Erachtens recht; aber Sie haben nicht recht, wenn Sie sagen, die ganze Theorie der Politik laufe darauf hinaus, daß man richtig sehe; denn Wahrheiten dieser Art – man nennt sie in Spanien die Sentenzen des Pedro Grullo – sind zu allgemein, zu gewöhnlich, zu flach, um im Ernst ausgesprochen werden zu können. Ein Mensch, der mir sagen würde, Weiß sei nicht Schwarz, würde mich niemals das Malen lehren; und wer mir sagt, das Ganze ist größer als ein Teil, gibt nur einen sehr unzulänglichen Unterricht in der Geometrie. Gehen wir also etwas weiter und sagen wir: Politik ist die Wissenschaft, den Menschen mit der verhältnismäßig geringsten Mühe möglichst viel Gutes zu erweisen. Es harrt also ein Problem de maximis et minimis der Lösung. Die Politik ist eine zu konstruierende Kurve (eine Parabel). Die Abszissen werden die Güter, die Ordinaten werden die Übel sein. Man wird den Punkt finden, wo das möglichst geringe Übel sich mit dem möglichst großen Gut trifft. Dieser Punkt bedeutet die Lösung des Problems, und so sind alle menschlichen Probleme; denn alles ist aus Gut und Übel gemischt. Sie sehen also, daß jedes politische Problem zunächst nur durch eine Gleichung mit unbestimmten Größen gelöst wird, die erst dann zu einer Gleichung mit bestimmten Größen wird, wenn Sie sie auf die besonderen Fälle anwenden.

Sie fragen, ob es gut sei, für Getreideausfuhr volle Freiheit zu bewilligen. Dieses allgemeine Problem ist nur durch eine unbestimmte Gleichung zu lösen. Sie fragen sodann, ob in Frankreich im Jahre 1773 freie Ausfuhr gestattet werden müsse. Jetzt ist das Problem festgelegt, denn Sie bestimmen Land und Zeit; und dieselbe Gleichung, auf den bestimmten Fall angewandt, wird Ihnen bald ein bejahendes (positives) bald ein verneinendes Resultat geben können. Die Politik ist also die Geometrie der Kurven, die hohe Geometrie der Regierungen, wie die Polizei deren ebene, einfache Geometrie ist: die ersten sechs Bücher des Euklid. Natürlich muß ein Geometer richtig sehen können; das ist selbstverständlich.

Die Politik ist also nicht nur eine Wissenschaft der Erziehung, sondern ganz im allgemeinen eine Wissenschaft, die überhaupt auf irgendeine Verbesserung abzielt. Landwirt nennt man sowohl den, der Jahrespflanzen, Zwiebeln, Salatköpfe anbaut, die er pflanzt und selber nach drei Monaten aus der Erde reißt, wie auch den, der Eichen und Kastanienbäume pflegt, die er nicht gepflanzt hat und deren Absterben er nicht erleben wird. Diese Kulturen sind verschieden, aber beide gehören zur Wissenschaift der Agrikultur.

Weisen Sie weit von sich und von der Politik die sinnlosen großen Worte von der Kraft der Reiche, von ihrem Sturz, ihrer Erhebung usw. Lieben Sie nicht die Ungeheuer der Einbildungskraft und Wesen, die nicht körperlich vorhanden sind! Es darf nur das Glück wirklicher Wesen, der vorhandenen oder kommenden in Betracht kommen. Wir und unsere Kinder – das ist alles. Das übrige ist Träumerei.

Ich glaube, die Menschen können den anderen Menschen Gutes und Böses zufügen. Fürsten werden geboren werden oder werden sterben; das macht mir nichts und macht den Menschen nichts. Man muß die Menschen glücklich machen; wenn sie in Frankreich nicht glücklich sind, muß man sie also zum Auswandern zwingen und sie nach Lappland schicken; befinden sie sich auch dort nicht wohl, so schicke man sie nach Kamtschatka. Allerdings macht die Größe, die Stärke eines Reiches oft das höchste Glück des Volkes aus, und sein Sturz hat auch das Unglück der einzelnen Menschen zur Folge. Aber dies gilt nicht allgemein. Die Florentiner sind in der Blütezeit ihrer Republik niemals so glücklich gewesen, wie sie es jetzt sind usw. Ich glaube also, ein Mensch kann das Wachstum oder den Verfall eines Staates, seines eigenen oder eines benachbarten, beschleunigen oder verzögern; aber er darf sich nur mit dem Glück der Menschen beschäftigen. Das Mittel, dieses Glück hervorzurufen, habe ich bereits genannt: es besteht darin, stets Übles und Gutes zu berechnen und den Mittelpunkt zu finden. Bei der Berechnung des Guten sowohl wie der Übel muß man die Gegenwart und die Zukunft in Betracht ziehen, soweit sie sicher oder sehr wahrscheinlich sind. Das Ungewisse ist jenes Unendlich-Kleine, das man bei der Rechnung außer acht läßt. Nun also, her mit Ihren Problemen: ich werde sie zu lösen suchen. Haben Sie für heute abend genug? Leben Sie wohl.


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