Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[86] An Frau von Epinay

Neapel, den 5. Januar 1772

Da haben Sie mir wirklich ein schnurriges Lied gesandt! Es ist reizend. Dann begeben Sie sich auf das Gebiet der Metaphysik; aber ich habe heute abend keine Zeit, Ihnen dorthin zu folgen und Ihnen zu beweisen, warum die Taugenichtse unschädlich gemacht werden müssen. Ich werde Ihnen das ein anderes Mal sagen und Ihnen dann auseinandersetzen, wie es kommt, daß Strafen eine rückwirkende Kraft haben, und daß ihre Wirkungen schon eintreten, bevor sie noch verhängt worden sind. Das ist sehr interessant. Aber heute abend muß ich Sie um zwei Gefälligkeiten bitten:

1. Wie Gatti mir sagte, besitzen Sie eine Arznei (zu deren Bestandteilen auch Korallen gehören), deren sichere und wunderbare Wirkung er bei Frauen erprobt hatte, deren Regel nicht in Ordnung gewesen sei, so daß die monatliche Reinigung zuweilen geradezu einen bedeutenden Blutverlust verursacht habe. Ich brauche diese Arznei – nicht für mich, wie Sie wohl begreifen – sondern für eine liebenswürdige Dame, keine Neapolitanerin. Ich brauche sie sofort, und Gatti glaubt, das Rezept unter seinen Papieren verlegt zu haben. Also schicken Sie mir, bitte, sofort das »Recipe« und die Gebrauchsanweisung. Sie retten damit eine liebenswürdige Dame und verpflichten einen reizenden Abbé – nämlich mich.

2. Ich brauche – und zwar für mich selber – einen gegen Skorbut wirkenden Wein, den ich einmal in Paris getrunken habe. Herr Le Roy von Versailles, der Jäger und Tierhistoriker, gab mir das Rezept. Der Wein bekam mir sehr gut. Ich möchte ihn wieder trinken, habe aber vergessen, welche Zutaten er enthalten soll. Lassen Sie sich das Rezept geben, und schicken Sie's mir. Sie retten damit einem reizenden Abbé das Leben – nämlich mir – und zugleich einer einzigen unvergleichlichen Frau – nämlich Ihnen. Denn wenn ich sterben sollte, so würden Sie doch auch sterben, nicht wahr?

Mora erzählt mir von Ihnen. Er hat etliche von meinen Briefen gesehen, aber warum gar keine von den älteren? Verbrennen Sie sie etwa? Ich bewahre die Ihrigen sorgfältig auf; aber ich werde ebensowenig Ihr Manuskript verkaufen können wie Sie das meinige, es sei denn, daß irgend ein Neugieriger alle beide kauft.

Von Frau Necker erhielt ich endlich einen Brief; da sie aber Ihnen nicht meine Antworten zeigt, werde ich ihr sehr spät und durch Vermittlung meiner Kanzlei antworten. Ich werde platt und glatt sein wie ein Teller der Frau Geoffrin. So bestrafe ich die kalte Aufrechterhaltung des Anstandes.

Von Diderot empfing ich einen Brief, der mir vorgestern zugestellt wurde; aber ich habe heute abend keine Zeit, ihm zu antworten; ich habe nur soviel Zeit, ihm zu gehorchen.

Gatti impft. Ich bin bemüht, ihm zu ermöglichen, daß er hier bleibt, bis die Impfung ein bißchen Boden gewonnen hat und allgemeiner eingeführt wird. Indessen, was für einen Zweck hat eigentlich die Impfung in unserem Land, wo es nicht der Mühe wert ist, zu leben? Auf diesen Einwurf finde ich keine Antwort.

Haben Sie mich lieb. Lassen Sie sich's gut gehen. Vergessen Sie nicht meine beiden Aufträge, von denen durch eine gewisse Verkettung auch Ihr eigenes Leben abhängt. Leben Sie wohl, schöne Frau, leben Sie wohl!


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