Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[116] An Frau von Epinay

Paris, den 27. März 1773

Der frühere Botschafter von Venedig hat mir Ihre Nr. 12 zugestellt, die Sie ihm übergeben hatten, um mir die Portokosten zu ersparen. Ich habe mit sehr großem Vergnügen den Dithyrambus der Eleutheromanen gelesen. Aber ich werde Ihnen meine Meinung darüber ein anderes Mal sagen. Im Augenblick habe ich keine Zeit, Ihnen einen langen Brief zu schreiben. Ich habe in meinen Armen und an meinem Busen den Fürsten Pignatelli und den General Schuwaloff, die mir alle meine Zeit nehmen, und ich widme sie ja auch gerne zwei Personen, die Sie kennen, die Sie lieben und mit denen ich oft von Ihnen plaudere ...

Wir haben hier ein französisches Schauspiel anderer Art gehabt. Ein Barfüßer-Karmeliter, Pater Césaire, Begleiter des Paters Elysée, der seit: kurzem hier ist, hat auf Wunsch des französischen Gesandten gestern in der Kirche seines Ordens eine französische Predigt gehalten. Die Zuhörerschaft war zahlreich. Alle haben sich dabei gelangweilt, und niemand hat es zu sagen gewagt, so sehr ist die Mode, an der französischen Sprache Gefallen zu finden, in alle Stände gedrungen. Seine Predigt war wirklich sehr schön; aber seine Aussprache war sehr schlecht. Das Spaßhafteste dabei war, daß die Zuhörer zur Hälfte aus Katholiken, zur Hälfte aus Ketzern bestanden; denn sogar die Konsuln von England, Schweden, Dänemark und Personen, die ihrem Beruf gemäß genötigt sind, sich offen zum Protestantismus zu bekennen, waren anwesend. Regt dies nicht viele Gedanken in Ihnen an? Ich knüpfe daran nur eine einzige Bemerkung: wenn Europa nur eine einzige Sprache hätte, gäbe es keine Unduldsamkeit mehr. Wenn die Menschen einander ähnlich sind, lieben sie sich, und nichts macht uns einander unähnlicher, als wenn wir uns beim Sprechen nicht verstehen. Die Verschiedenheit der Sprache ist die wahre Ursache der Verschiedenheit der Rassen. Man gehört zur selben Familie, wenn man sich gut versteht. Sie ersehen daraus, daß Duldsamkeit und Menschenliebe niemals allgemein über die ganze Erde verbreitet sein können; aber sie könnten sich über ganz Europa erstrecken, denn dieses ist weder größer noch stärker bevölkert als China...


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