Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[89] An Frau von Epinay

Neapel, den 29. Februar 1772

Schöne Frau,

nach der Sintflut die Dürre. Seit zwei Wochen erhalte ich nichts aus Paris. Ich muß jedoch auf den Brief antworten, der mir durch zwei Kuriere zuging, nachdem er in Madrid gewesen war; er enthielt einen Traum in Gesprächsform. Dieses Gespräch war sehr fein und ungekünstelt geschrieben und voll von guten Einfallen, treffenden Gedanken und unmöglichen Wünschen.

Ich habe gegen Ihre Darlegungen nur einen einzigen Einwand zu erheben: Ich gebe zu, daß das Studium der Geschichte für den Schauspieler notwendig ist, vorausgesetzt immerhin, daß der Verfasser des Stückes sie ebenfalls studiert und sich an Sitten und Gebräuche der Zeit gehalten hat. Aber wenn er selber das nicht getan hat – wie es fast immer der Fall ist – so wäre der Schauspieler in einer tausendmal schlimmeren Verlegenheit, wenn er die Geschichte kennte. Wenn ein Unglücksmensch den Garzillas gelesen hätte und dann »Alzire« spielen wollte, so soll mich der Kuckuck holen, wenn er ein einziges Wort von der Rolle Zamores, der so gelehrt ist, sprechen könnte, oder von der Rolle Alzirens, die über Religion so nett zu disputieren weiß wie Voltaire selber. Alvarez und Gusman sind zwei so schöne spanische Granden wie der Prinz von Oranien und der Herzog von Alba, anstatt zwei Seeräuber zu sein, richtige Freibeuter des Meeres, wie Cortez und Pizarro es waren. Wahrhaftig, meine schöne Dame, ich bin der Meinung, die Unwissenheit der Dichter hat die Unwissenheit der Schauspieler erzeugt, und aus diesen beiden Unwissenheiten ist die Unwissenheit der Zuschauer hervorgegangen; denn diese ist weder erschaffen noch erzeugt, sondern aus den beiden anderen erwachsen. Diese Dreifaltigkeit von Unwissenheit hat nun die Theaterwelt erschaffen. Diese Welt gibt es nur auf der Bühne: das Theater hat seine ganz besonderen Menschen, Tugenden, Laster, Ereignisse; es hat seine Sprache und seinen Dialog für sich. Die Menschen haben sich darüber geeinigt: so solle es sein, das Theater solle diese Welt haben, und man ist übereingekommen, das schön zu finden. Die Gründe für solche Übereinkunft ließen sich schwer feststellen. Der Vertrag wurde schon vor sehr langer Zeit geschlossen und ist bei keinem Gerichtsschreiber protokolliert worden. Ich fürchte sehr, man ist übereingekommen, Le Kain gut und vollkommen zu finden. Gegen ein Übereinkommen und eine in aller Form abgeschlossene Abmachung läßt sich nicht aufkommen. Wenn man übrigens auf der Bühne sich so weit von der Natur entfernt hat, daß man eine ganz neue Welt eigens für sie geschaffen hat, so liegt, glaube ich, die Ursache in der Schwierigkeit, der Wahrheit nahezukommen, indem man seine Umgangssprache beibehält, und in der gesetzlichen Vorschrift, keine modernen Ereignisse auf die Bühne bringen zu dürfen. Man macht eine gute Komödie, die bis zum I-Tüpfelchen wahr ist, weil es erlaubt ist, die; Hahnreischaft darin darzustellen, die noch keine Woche alt ist, den Zank zwischen Mann und Frau, der im vorigen Monat vorfiel, den Ruin eines Spielers, der sich vor einem Jahr ereignete. Aber wenn es nicht erlaubt ist, in einer Tragödie den Sturz des Herzogs von Choiseul oder auch nur den des Kardinals Bernis darzustellen, wie kann man da die Wahrheit schildern? Wenn Sie Themistokles und Alkibiades auf die Bühne bringen, bemerke ich sofort, daß sie griechisch gesprochen haben und daß man sie französisch sprechen läßt; daß sie Bürger einer Republik waren und daß wir in Paris sind, das nach dem Königlichen Taschenbuch keine Republik ist. Ich verzichte also auf die Hoffnung, jemals eine wahre Tragödie zu haben, und ich würde daher meinem Schauspieler raten, sich der seltsamsten Stellungen, der furchtbarsten Stimme, der übertriebensten Haltung, der überspanntesten Leidenschaftlichkeit zu bedienen. Jedesmal, wenn er wegen einer Grimasse Beifall erhält, würde ich ihm raten, am nächsten Tage eine richtige Gesichtsverrenkung zu produzieren; er trachte, sich recht gut bezahlen zu lassen, bei allen Damen zu schlafen, die ihn darum ersuchen, und von allen Schauspielerinnen, die Miene machen, es ihm versagen zu wollen, zu verlangen, daß sie ihn bei sich schlafen lassen. So würde ich meinen Emile Le Kain den Jüngeren erziehen. Sehen Sie, wie verschiedener Meinung wir sind; aber wenn wir unglücklicherweise der gleichen Meinung gewesen wären, hätte ich Ihnen ja nichts zu schreiben, als daß ich Sie immerdar anbete.

Der Prinz von Sachsen-Gotha ist abgereist. Leben Sie wohl, behalten Sie mich lieb!


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