Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[70] An Frau von Epinay

Ärgerliche Antwort

Neapel, den 6. Juni 1771

Pfui, wie unwürdig! Pfui, wie knauserig! Wie? Weil der Botschafter zum Hofball nach Versailles geht und Sie mir daher Ihren Brief nicht als Beischluß durch ihn schicken können, muß ich eine ganze Woche ohne einen schönen Brief von Ihnen bleiben. Sie mußten ihn schreiben und mit der Post schicken; ich hätte das Porto bezahlt, und es wäre mir um mein Geld nicht leid gewesen. Was soll ich Ihnen jetzt mitteilen? Ich habe nichts im Kopf und nichts in der Tasche. Ich habe in der Lotterie verloren. Ich bin unter einem Volk, das in tiefem Schlafe liegt, so daß es mir nicht möglich ist, einen einzigen Zuhörer zu finden. Ich muß unbedingt nach Paris zurückkehren. Also machen Sie schnell, daß der Wirrwarr ein Ende nimmt, damit ich wieder lustig mit Ihnen plaudern kann. Ich habe meine »Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts« unvollendet gelassen; darüber wird Grimm sich ärgern; aber warum bringt er mich nicht durch ein paar Briefe von ihm in Schwung und Zug? Und Suard, und der Baron und endlich auch Sie – warum vergeßt Ihr alle mich? Ich bitte Sie, zeigen Sie ihnen zuweilen ein paar Zeilen von mir, als eine Beglaubigung, daß ich noch am Leben bin...

Ein schlechter Abend. Es fällt mir nichts ein, was würdig wäre, Ihnen mitgeteilt zu werden. Gestern machte ich einen langen Spaziergang und wurde davon über alle Maßen müde und abgespannt. Da dachte ich darüber nach, was eigentlich Müdigkeit ist. Und da fand ich, daß es tatsächlich nichts anderes ist als die Verdunstung eines Stoffes, den wir Seele nennen. Ich entdeckte die neue und tiefe Theorie, daß jede Maschine, die mit einem Willen begabt ist, müde werden kann, zum Beispiel der Mensch, das Tier. Die sogenannte »stoffbildende« Seele der Bäume oder lebender Wesen ist keiner Müdigkeit unterworfen. So hängt die Bewegung des Herzens usw. von unserer stoffbildenden Seele ab und ist weder dem Willen noch der Müdigkeit unterworfen. Der Wille ist also ein Ausströmen jenes flüchtigen Stoffes, der auf den Nerv wirkt, von dem der Wille ausgeführt wird; indem der Stoff sich verflüchtigt, wird die Müdigkeit hervorgebracht und dauert so lange, bis er wieder ersetzt ist. Der Tod ist also eine vollständige Müdigkeit, die durch ein Übermaß von Wünschen herbeigeführt wird. Ich sterbe vor Lust, nach Paris zurückzukehren: das ist mein Tod. Guten Abend.


 << zurück weiter >>