Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[32] An Frau von Epinay

Neapel, den 4. August 1770

... Der Abbé Coyer wäre Nachfolger des Abbé de Saint- Pierre geworden, wenn sein Eifer von Begeisterung für die Tugend herrührte, und nicht von einem geheimen Ehrgeiz, etwas vorzustellen. Sein Erziehungsplan wird sicher nicht soviel wert sein wie Ihre Kritik. Sie haben sie jedoch nur geschrieben, um meine Laune zu wecken, das sehe ich wohl. Aber meine Laune hat nicht nötig aufgerüttelt zu werden.

Mein Traktat über Erziehung ist fertig. Ich beweise darin, daß die Erziehung für den Menschen wie für die Tiere dieselbe ist. Sie läuft auf zweierlei hinaus, nicht mehr: Ungerechtigkeiten zu ertragen lernen, Langeweile zu ertragen lernen. Was läßt man in der Reitschule ein Pferd tun? Es geht von Natur in Paß, Trab, Galopp, Schritt. Aber das Pferd wählt die Gangart, wie es ihm gut dünkt und wie es Lust hat. Man lehrt es, diese Gangarten gegen seinen Willen anzunehmen, gegen seine Vernunft (da liegt die Ungerechtigkeit), und sie zwei Stunden lang fortzusetzen (da liegt die Langeweile). Wenn man daher ein Kind Lateinisch, Griechisch oder Französisch lernen läßt, so interessiert nicht das Nützliche der Sache, sondern es muß sich eben daran gewöhnen, den Willen anderer zu tun (und sich zu langweilen), und durch ein Wesen seinesgleichen gestraft zu werden (und zu leiden). Wenn es hieran gewöhnt ist, so ist es dressiert, für die Gesellschaft hergerichtet, geht in die Welt, achtet Beamte, Minister, Könige (und beklagt sich nicht über sie). Der Mensch übt seine Amtsverrichtungen aus, er geht in sein Bureau oder zur Audienz, oder auf den Wachtposten, oder ins Oeil-de-boeuf und gähnt und bleibt dort und verdient sich sein Brot. Tut er das nicht, so taugt er nichts in der gesellschaftlichen Ordnung. Also die Erziehung ist nur die Beschneidung der natürlichen Talente, um an ihre Stelle die sozialen Pflichten zu setzen. Die Erziehung soll Talente verstümmeln und beschneiden. Wenn sie das nicht tut, so haben Sie den Dichter, den Improvisator, den Haudegen, den Maler, den Spaßmacher, das Original, die Vergnügen schaffen und vor Hunger sterben, weil sie sich in keine von den Nischen der sozialen Rangordnung mehr einstellen können. Die Engländer sind die unerzogenste Nation der Welt und darum die größte, die lästigste, und bald auch die unglücklichste von allen.

Die Regeln der Erziehung sind also sehr einfach und sehr kurz. In einer Republik braucht weniger erzogen zu werden als in einer Monarchie, und unter dem Despotismus muß man die Kinder in Serails halten, schlimmer als die Sklaven und Frauen. Der Despotismus bei den Mönchen ist eine Folge der ungerechten und langweiligen Härten des Noviziats. Darauf beruht das Wesen der künstlichen und modernen Theokratie. Die alte und ursprüngliche Theokatie gehört mit zum Donnerrollen, zum Erdbeben; sie schuf und sah überall Götter. Die moderne Theokratie fängt damit an, die Menschen durch Kasteiungen und Abtötung des Fleisches läutern zu wollen: sind einmal diese Menschen an die höchsten Leiden und Widerwärtigkeiten gewöhnt, so ist der Papst, der Abt, der Beichtvater, der Novizenmeister ein Tyrann, ein Gott, er ist alles. Er kann aus einem so gebändigten Wesen machen, was er will.

Die öffentliche Erziehung drängt auf die Demokratie hin, die Privaterziehung führt gradeswegs zum Despotismus. In Konstantinopel, Spanien, Portugal gibt es keine Gymnasien, Die es in diesen Ländern gab, waren von Jesuiten geleitet, und zwar mit einer Grausamkeit, die die Natur dieser Schulen völlig veränderte.

Übrigens gilt im allgemeinen die Regel: alle angenehmen Methoden, um Kindern die Wissenschaft beizubringen, sind falsch und albern; denn es handelt sich nicht darum, Geographie oder Geometrie zu lernen; es handelt sich darum, sich an Arbeit, das heißt an Langeweile, zu gewöhnen, seine Gedanken auf einen einzigen Gegenstand zu richten etc. Ein Kind, das alle Hauptstädte der Welt weiß, wird darum noch nicht die Gewohnheit haben, sich im rechten Verhältnis zu seinen Ausgaben und Einnahmen einzurichten, und der Herr Geograph wird von seinem Haushofmeister auf Erden bestohlen werden und mitten in seinen Kapitalen Europas Bankerott machen. Gehen Sie von diesen Theorien aus, entwickeln Sie sie, und Sie werden ein Buch bekommen, was das gerade Gegenteil des »Emile« ist und darum nur um so besser. Aber Sie haben mir verboten, jemals Familienmutter zu sein, und da schwatze ich schon eine Stunde von Erziehung. Sprechen wir von anderm.

Wie zum Teufel stellt denn der Fréron es an, Ribaud zu widerlegen? Mich hat sein Buch ins höchste Erstaunen versetzt. Ich habe darin nur die gemeine Unflätigkeit verstehen können, die er gegen mich geschleudert hat. Wenn ich denke, daß Ribaud die Fähigkeit besitzt, wie ich auf zwei Füßen zu gehen, so erröte ich vor Scham, daß ich als Mensch geboren bin, und ich möchte lieber etwas andres sein.

Ich schäme mich, daß ich noch nicht an Diderot geschrieben habe.

Geben Sie mir irgendeine tröstliche Nachricht über mein Geld.

Ich schreibe heut abend an Suard und Madame Necker zwei Briefchen. Ich zeige es Ihnen an, weil Sie so lecker darauf sind: übrigens lohnen sie nicht die Mühe, ihnen nachzuforschen.

Leben Sie wohl, schöne Frau. Ich umarme den Propheten, den Philosophen und alles, was sich sonst umarmen läßt. Arbeiten Sie an meiner Rückkehr nach Paris, wenn Sie mich wiedersehen wollen. Der Abbe Terray braucht nur ein ganz kleines bißchen Lust zu zeigen, mich zu befragen, und ich fliege den Schlechtberatenen zu Hilfe.


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