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Das »verdächtige Individuum«

Wer kennt nicht aus Polizeiberichten das »Individuum«, das sich in der Nähe des Tatortes »herumtrieb« und sich »durch auffälliges Benehmen verdächtig« machte. Es tritt nie allein, sondern immer in mindestens dreifacher Ausfertigung auf und wird von den wachsamen Sbirren naturgemäß augenblicklich arretiert.

Am nächsten Morgen aber ist zu lesen, daß einige als »verdächtig erscheinende Personen« inzwischen wieder entlassen worden sind. Beachtenswert, daß das »Individuum«, das seine Nichtbeteiligung nachgewiesen, unverzüglich zur »Person« avanciert.

Inwieweit macht sich nun jemand durch »auffälliges Wesen verdächtig«. Ich versuche einen Fall zu konstruieren. Da geht also ein Mensch durch eine Straße, in der in der Nacht zuvor einige dezidierte Feinde der bürgerlichen Gesellschaft eine Bedürfnisanstalt männlichen Geschlechts in die Luft gesprengt haben. Dieser Mensch grimassiert stark und gibt Laute von sich, die an ein dumpfes Stöhnen erinnern. Seine reguläre Fortbewegung ist nämlich durch einen gichtischen Fuß behindert, männlich tapfer will er sich nichts anmerken lassen; übersieht leider, daß seine bewegte Mimik bereits Aufmerksamkeit erregt hat. Schon ist Getuschel um ihn, ein spitzer Finger fährt denunzierend durch die Luft; ein Schupomann versucht abzuwimmeln, aber: – läßt du diesen los, bist du des Kaisers Freund nicht mehr!

Der Gichtbrüchige überlegt gerade, ob es nicht doch besser sei, den nächsten Autobus zu besteigen, da legt sich das Gesetz schwer auf ihn. Laut ertönt sein Wehgeschrei, denn er fühlt sich schuldenfrei.

Eine halbe Stunde später ist er wieder entlassen. Gleichzeitig mit ihm trafen auf dem Polizeirevier drei weitere »Verdächtige« ein. Der eine hatte eine Nase von selten vorkommendem Karmoisinrot, der zweite einen lasterhaften Zug um den Mund, und der dritte war schlecht gekleidet.

Der Schlechtangezogene ist am meisten gefährdet. Der hat das heisere Lachen des ausgekochten Übeltäters, den kalten, frechen Blick des Gewohnheitsverbrechers, die tiefen Schatten um die Augen, die von Nächten furchtbarster Gewissensqual Zeugnis ablegen. Er ist das grelle Plakat aller Schändlichkeiten, die wandelnde Litfaßsäule des Teufels. Kein Wunder, daß er zum Brennpunkt allen Argwohns wird, der schlechtgekleidete Mensch, er, in unserer an Individuen so armen Zeit, das einzige Individuum. Das ändert aber nichts daran, daß er bereits nach einer halben Stunde sich wieder auf freiem Fuß befindet.

Neulich sah ich, wie am Wittenbergplatz ein lange gesuchter Schwerverbrecher abgeführt wurde. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, das Antlitz von überlegener Ruhe, der Gang leicht und fest. Hin und wieder machte er mit seinem spanischen Rohr eine abwehrende Bewegung voll lässiger Grazie, als genügte das, um die Pfeile der Justiz dem Schützen in den eigenen Balg zurückzusenden.

Neben ihm, in respektvollem Abstand, ging der Polizist. Und auf seinem Antlitz lag ein festlicher Abglanz der leuchtenden Lackkappen seines vornehmen Klienten.

Berliner Volks-Zeitung. 22. Dezember 1921


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