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Sozialismus und Geist
Eine Schrift Bertrand Russells

Der englische Universitätslehrer Bertrand Russell, weltbekannt geworden durch seine mutige Opposition gegen den Krieg (er gehörte zu denen, die jeden Kriegsdienst verweigerten), hat sich später offen zum Sozialismus bekannt und auch seine Sympathie für den russischen Bolschewismus nicht verhehlt, bis er auf einer Studienreise das wahre Gesicht des Trotzki-Systems kennen lernte und als mutiger Mann ebenso offen dagegen Stellung nahm, wie einst gegen den völkermordenden Militarismus, unbekümmert um das Anathema Moskaus. Die Früchte seines Denkens und seiner inneren Kämpfe hat er niedergelegt in einem Werk, das er »Politische Ideale« nennt und das, von Dr. E.J. Gumbel übertragen und von Professor Albert Einstein eingeleitet, noch in diesem Sommer in der Deutschen Verlagsanstalt für Politik und Geschichte in Berlin erscheinen wird. Ein heute schon als Sonderdruck herausgegebenes Kapitel »Kunst, Wissenschaft und der Sozialismus«, gewährt einen Einblick in die reine Idealität dieses Strebens und verspricht heute schon ein Werk, das nützlich sein kann für die deutschen Sozialisten und für jeden ehrlichen Demokraten überhaupt. Russell verschmäht die reine Massenbeglückungstheorie, ihm bedeutet ein Sozialismus nichts, der ausschließlich materielle Interessen berücksichtigt und vor dem Geist ratlos steht, oder ihn gar als einen unbequemen Freischärler bekämpft. Er sieht in dem Marxismus ein unbewegliches, vollendetes System und kann deshalb damit nichts Rechtes anfangen. Er will überhaupt nichts Fertiges, nicht die stereotype Gesellschaft, sondern das ständige Fließen, die Entwickelung, die Wirtschaftsordnung, die den Übergang zu noch besseren Zuständen anregt und ermöglicht. Und weil er kein Klischeesozialist ist, deshalb quält ihn das Problem, wie sich die sozialistische Gesellschaft zu jenen besonderen und raren schöpferischen Individuen stellen soll, die neue Gebiete erschließen, die die Fähigkeit haben, schöne Dinge zu schaffen oder ihren Visionen körperliche Form zu geben zur Freude der Menschen. Jede geistige Arbeit, so legt Russell dar, »entspringt einem Impuls, der nicht rechnet; die beste Förderung ist nicht die Belohnung nach der Tat, sondern eine Umgebung, die den Trieb lebendig erhält und dem Willen zur Tat die Freiheit gibt, sich auszuwirken. Was wir unserem heutigen Wirtschaftssystem vorwerfen, ist, daß es solche Umstände nicht schafft. Wird der Sozialismus besser sein?« Das ist die Fragestellung, und die führt ihn zu einer scharfen Umgrenzung seines sozialistischen Ideals. – Auch wer aus wirtschaftlichen Gründen jede Form von Sozialismus für undurchführbar hält, wird gern salutieren vor dieser Schrift des englischen Gelehrten, die nicht eine Parteisache ist, sondern das Dokument einer großen, edlen Seele, und ein unvergeßliches Manifest reinster Menschlichkeit.

Berliner Volks-Zeitung, 11. Juni 1921


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