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Ein Phantom

Aus der Nordmark kommt eine vergnügliche Kunde: Zwei junge dänische Sängerinnen, die bei einer befreundeten Familie zu Gast waren, hatten zugesagt, bei einer kleinen Privatfestlichkeit ein paar Proben ihrer Kunst zu geben. Leider sollte ihr Vortrag ein jähes Ende finden. In den lieblichen Sopran des Fräuleins Dinesen mischte sich der seriöse Baß des Gendarmen. Beide Damen wurden sofort dem Amtsvorsteher vorgeführt, der ihnen bedeutete, daß sie ausgewiesen wären und Deutschland sofort zu verlassen hätten. Sie durften sich nicht einmal umziehen; in ihren dekolletierten Gesellschaftskleidern mußten sie die Reise antreten. Die Damen haben das mit guter Laune ertragen; sie waren in dieser Affäre ja nicht die Blamierten.

Es ist erfreulich, daß die preußische Bureaukratie in dieser ernsten Zeit auch dem Humor zu seinem Rechte verhilft. Das Verbot gegen Amundsen war schon ernster: das roch nach Kulturschande. Dagegen ist dieser Fall ein Idyll, ein in der Nordmark nicht seltenes Idyll. Die zivilisierte Welt wird allerdings lachen; aber man kann alles mögliche beseitigen, nur nicht den Willen zur Blamage. Darin verblüfft die echt preußische Bureaukratie durch eine eherne Charakterstärke. Jenseits der Grenze, in Dänemark, wird man natürlich nicht so unbedingt vergnügt sein; in das Gelächter werden sich wohl ein paar derbe Flüche mischen. Irgendwelche völkerrechtlichen Folgen wird diese Nordmarkhumoreske freilich nicht haben. Dänemarks kluge demokratische Regierung wird eine etwaige Erregung beschwichtigen, wie sie es noch vor kurzem in der Frage des Landungsverbots getan hat. Ob aber nicht ein neuer Rest Verärgerung und Bitterkeit gegen den großen Nachbarn übrig bleiben wird? Hier liegt der ernste Teil des Spaßes: wir können die Freundschaft oder auch nur die Neutralität des kleinen Landes vielleicht einmal bitter nötig haben.

Wenn etwas gegen unsere Machthaber spricht, so ist es ihre Unfähigkeit, Provinzen mit gemischter Bevölkerung vernünftig zu regieren. In 40 Jahren hat man es fertig gebracht, aus den Grenzländern offene Wunden am deutschen Reichskörper zu machen. Elsaß-Lothringen wird schikaniert; die Ostmarken werden mißhandelt. Dabei wäre es überaus wichtig, die Polen dem deutschen Reiche freundlicher zu stimmen; denn wenn wir den alldeutschen Schlauköpfen glauben dürfen, so werden wir noch einmal mit dem Slaventum, oder vielmehr mit seiner Vormacht Rußland, eine Auseinandersetzung auf Tod und Leben haben. Zwischen Russen und Polen aber klafft ein tiefer Riß. Bei etwas geschickterer Behandlung des polnischen Volkes hätten wir seine Hilfe und Sympathie bei einem Zusammenstoß mit dem Zarismus. Unsere Alldeutschen betonen ferner, daß wir den Zusammenhang mit dem germanischen Norden nicht verlieren dürfen. Wie sieht es in der Praxis aus? Das kleine, rührige, kulturell hochstehende Dänemark, das so recht geeignet wäre, zwischen Deutschland und den beiden nordischen Reichen den Mittler zu spielen, wird systematisch vor den Kopf gestoßen. Die Dänen auf deutschem Boden werden mit antiquierten Polizeimaßregeln drangsaliert. Die Alldeutschen aber, die so gern mit dem stolzen Worte »Pangermanismus« hausieren gehen, klatschen dazu Beifall, während die nordischen Reiche spöttisch und verärgert beiseite stehen.

Warum dieses unerquickliche Schauspiel? Es ist bezeichnend, daß unsere Reaktionäre nach immer schärferen Polizeimaßregeln für die Grenzländer schreien und alle bisherigen Maßnahmen, mögen sie durch Anwendung und Wirkung auch noch so grotesk erscheinen, mit verzweifelter Zähigkeit verteidigen. Den Deutschen, die sich in ihrer Mehrheit ja nicht als Staatsbürger, sondern als Untertanen fühlen, soll eingeredet werden, daß ihr Land von einer Welt giftiger Feinde umringt sei, die selbst mitten im Frieden an unseren Grenzen in einer ständigen Hetz- und Minierarbeit begriffen sind. Fällt dieses Phantom einmal, so hat die Reaktion ausgespielt. Nur ein Volk, das in den Niederungen des Nationalismus watet, kann von einer Clique von Junkern und Großkapitalisten gegängelt werden.

Die Konservativen und Alldeutschen jammern über die fortschreitende Polonisierung der Ostmark. Aber dieselben Herrschaften schleppen polnische Arbeiter zu Tausenden als Lohndrücker in urdeutsche Landesteile. Zur rechten Zeit bringt die » Welt am Montag« einen Artikel über die Durchsetzung der mecklenburgischen Landbevölkerung mit slavischen Elementen. Von den eingeführten Polen verdrängt, wandern die eingesessenen Landarbeiter in Massen in die Städte. Überall auf dem Lande hört man polnisch sprechen. Auf manchen Gütern ist außer dem Inspektor kein einziger Deutscher. Die Geschäfte führen auf ihren Schildern den Vermerk, daß hier polnisch gesprochen wird. Die Regierung empfand das Gefährliche der Situation; sie erließ eine Verfügung, nach der ausländische Arbeiter mindestens alle zwei Jahre in die Heimat zurückzukehren hätten. Aber dagegen erhob sich die mecklenburgische Ritterschaft wie ein Mann. – Da haben wir das wahre Gesicht des konservativen »Deutschtums«; überall grinst uns die Lüge an; überall lesen wir die Einschränkung: »... wenn es nicht gegen unseren Profit geht!«

Der gute deutsche Bürger aber läßt sich weiter irreführen, und wenn er einmal zum Selbstdenken erwacht, flugs wird ins nationalistische Horn geblasen, und Michel ist wieder eingeschüchtert. Die Aufklärungsarbeit ist schwer. Es gilt Berge von Mißtrauen und Verhetzung abzutragen, die die Reaktion in Jahrzehnten zusammengeschleppt hat, um dem betrogenen Volke den freien Ausblick zu rauben. Die Liberalen haben überall versagt.

Demokraten an die Front!

Das freie Volk, 4. April 1914


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