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Zwischen den Schlachten

Zwölf Schüsse für einen Mann, den der erste bereits gefällt hatte. Es war keine gewöhnliche Mordarbeit. Der Geist des Hasses, der Geist der sinnlosen Vernichtung selbst drückte die Parabellumpistolen ab. Und als das Opfer am Boden lag, da, im Bluttaumel, drückten sie immer wieder ab, als gelte es, den Vater aller Lüge für ewig zu erledigen. Sie haben einen Menschen getötet, sterblich wie wir alle. Aber sie haben auch ein Phantom getötet, eine Chimäre der nationalistischen Presse, eine Legendenfigur, die fast gar keine menschlichen Umrisse mehr hatte. Sie haben auf ihn geschossen wie auf eine rot angestrichene Plakatfigur mit Teufelsfratze. Matthias Erzberger ist ebenso wie der ganz anders geartete Kurt Eisner ein Opfer der maß- und hirnlosesten Übertreibungen geworden. Ein Blutzeuge des furchtbaren Einflusses der Presse, eine Mahnung an jeden deutschen Publizisten, die Macht, die in seinen Händen liegt, nicht zu mißbrauchen.

Dennoch: daß selbst ein langer, zäher Verleumdungsfeldzug so furchtbare Folgen haben kann, muß seine tieferen Gründe haben. Erzberger war nicht der einzige gehaßte Mann in Deutschland; auch unter seinen prononziertesten Gegnern befinden sich viele, die von wesentlichen Teilen des deutschen Volkes als Schädlinge betrachtet werden, aber nicht ein einziges Mal nahm diese Gegnerschaft Formen an, welche die Grenzen der Gesetzlichkeit überschritten. Erzberger ist nicht allein daran verdorben, daß er Anschauungen verfocht, die geeignet waren, die wüstesten Affekte auszulösen, sondern mehr noch an der fabelhaften politischen Unbildung des deutschen Bürgertums. Gerade ein Blatt, das mehr als ein halbes Jahrhundert die besten Traditionen der deutschen Demokratie vertritt, hat die Pflicht, das offen herauszusagen.

Nur einem Volk, das im tiefsten Kerne politisch ungeschult ist, konnte Erzberger als höllischer Unterminierer deutscher Größe hingestellt werden. Die Etappen deutschen Niederganges waren die Stufe seines Aufstieges, das ist der Sinn alles reaktionären Geschreibsels, und das glaubte ein Berliner Blatt auch ganz offen konstatieren zu müssen. Daß solche tollen Behauptungen aber nicht einem homerischen Gelächter begegnen, daß nicht sofort eine Sturzwelle von peinlichen Fragen das Piedestal des edlen Skribenten ins Wackeln bringt, das eben ist durch die Leichtgläubigkeit und den unpolitischen Sinn des Deutschen schicksalsmäßig fundiert. Der deutsche Niedergang begann nicht mit der Juli-Resolution, wie es die Geschichtsklitterung behauptet. Zu jener Zeit hatten die militärischen Tatsachen bereits gegen uns entschieden. Die parlamentarische Aktion war ein letzter Versuch, zu retten, was noch zu retten war. Sie scheiterte an der Engstirnigkeit der Halbgötter vom Generalstab. Wer ist verantwortlich für den Waffenstillstand? Der Mann, der ihn endlich abschloß?! Nein, es waren die militärischen Führer, die diesen Schritt unternahmen und zwar in einer Form unternahmen, die ganz unzweideutig von jedem Urteilsfähigen als Kapitulation gedeutet werden mußte. Es sind die gleichen Unglücksführer, die heute das allzu vergeßliche deutsche Volk zu infamieren trachten. Wäre die deutsche Republik nicht so unendlich tapsig in allem, was Propaganda angeht, sie hätte die Dokumente, die diesen Waffenstillstand belegen, Woche für Woche, Tag für Tag durch Maueranschlag verbreiten lassen und damit längst einer Geschichtslüge den Garaus gemacht, deren Folgen wir noch nach Jahrzehnten spüren werden. Gewiß, Erzberger hat nicht immer eine glückliche Hand gehabt, aber er hatte immer eine mutige Hand. Wenn er tatsächlich Missionen übernahm, denen er nicht gewachsen war –, er hat sich nicht vorgedrängt, er hat sie durchgeführt, weil sich eben niemand anders fand. Er hatte die Entschlossenheit, in die Bresche zu springen, wenn Männer, die ihm an Bildung and Sachwissen weit überlegen waren, in vornehmer Reserve sich im Hintergrund hielten. Er hatte die unbestreitbare Courage, sich zu kompromittieren, wo jeder andere sich in gleichem oder vielleicht noch in stärkerem Maße kompromittiert hätte. Den schmachvollen Waffenstillstand hat er abgeschlossen! so lautet der ärgste Vorwurf. Er hat es getan. Er hat es getan, weil die stolzen Herren mit Portepee und Goldbordüren, die drei Jahre hindurch jedem Verständigungsfrieden gewehrt haben, die sich vier Jahre hindurch um jede Zivilangelegenheit gekümmert haben, plötzlich keinen Ehrgeiz verspürten, bei dieser rein militärischen Angelegenheit mitzuspielen. Zum ersten und einzigen Male in der Weltgeschichte ist ein Waffenstillstand durch die zivilen Instanzen eines Landes abgeschlossen worden. Es war ein unverzeihlicher Fehler, daß man damals nicht Herrn v. Hindenburg, der heute als grollender Wotan durch die deutschen Lande zieht, in den Wald von Compiègne schickte. Oder den Herrn General v. Stein, oder sonst einen Granden aus dem Reiche Ludendorffs. Die militärische Niederlage hätte die Unterschrift eines militärischen Führers haben müssen, nicht die eines bürgerlichen Beamten der Republik.

Wer weiß heute in Deutschland, wie sich damals die Dinge in Wirklichkeit abgespielt haben? Die Klischees der Wulle- und Reventlow-Presse beherrschen alle Köpfe. Und am schlimmsten steht es leider mit den bürgerlichen Oberschichten. Hier haben die albernsten und kurzbeinigsten Lügen unumschränkt Besitz ergriffen. Und wenn die Regierung heute eine Pflicht hat, so ist es die unerschrockene Offensive gegen die alles vergiftenden Legenden. Geschieht das nicht, so kommen wir nach vereinzelten Bürgerkriegsepisoden in eine Periode individuellen Terrors, der schließlich durch den Krieg aller gegen alle abgelöst wird. Mit der Reinigung der Hirne zu beginnen, ist gegenwärtig die erste Aufgabe.

Es ist eine unheimliche Stimmung in Deutschland; wir stehen zwischen den Schlachten. Mögen auch die deutschnationalen Führer bedenken, soweit sie noch zu vernünftigen Erwägungen fähig sind, daß die Propaganda der Tat nicht etwas ist, was schließlich sich mit Naturnotwendigkeit auf die eine Seite beschränken muß. Der Fanatismus ist an keine Partei gebunden, und wenn einer den Weg der Gewalt beschritten hat, so darf er sich schließlich nicht wundern, wenn ihm von der anderen Seite jemand mit gleicher Stimmung entgegenkommt.

Die »Deutsche Tageszeitung« hat mit zynischer Frechheit den Männern der Republik »Zurückhaltung« anempfohlen, da sie sich sonst die Folgen zuschreiben könnten. Das ist das offene Bekenntnis zur Methode des Fascismus, oder, einige Stufen niedriger noch, zu den Gepflogenheiten der »Schwarzen Hand«. Wir richten die dringende Mahnung an die Reichsregierung, an die demokratischen und sozialistischen Republikaner jeder Richtung, sich durch solche Unverschämtheiten nicht einschüchtern zu lassen, sondern das zu tun, was notwendig ist, damit wieder Gesetz im Lande herrscht und unser deutsches Vaterland nicht von Albanien oder Afghanistan mit Recht bespöttelt wird. Erhärtet sich diese Entschlossenheit in uns zum unbedingten Tatwillen, so werden wir die Tragik dieser Tage nicht umsonst durchlebt haben. Aus dem Geiste der Niedergeschlagenheit und Zerrüttung steige neubelebend und anfeuernd das große Dichterwort:

Nur der verdient die Freiheit und das Leben,
der täglich sie erobern muß!

Berliner Volks-Zeitung, 28. August 1921


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