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Theater in der Königgrätzerstraße
Wedekinds »Hidalla«

Es ist sicherlich verdienstlich, daß Meinhard und Bernauer darangehen, dieses vielleicht stärkste Stück Wedekinds in Berlin heimisch zu machen. Obgleich gegen die Regie von Ernst Welisch manches einzuwenden ist. Kaum in einem anderen Drama hat Wedekind diesen Höhegrad fanatischer Besessenheit erreicht als in der Tragödie Karl Hetmanns, des mißgestalteten und asketischen Apostels der Emanzipation des Fleisches. Ein Prophetenschicksal von unerhörter Zeitnähe. Dieser kleine, krumme Karl Hetmann, der Anwalt der ewigen Menschenrechte, ist die verborgene Stimme unseres Blutes, vor der wir die Ohren verstopfen, weil wir ihre Predigt schamlos finden.

Die Regie beging den einen Kardinalirrtum, daß sie dieses Stück Aktualität ihrem natürlichen sozialen Rahmen entriß und auf eine an und für sich ganz amüsante zeitlose Szene mit niedlichen Pfefferkuchenhäuschen und gemalten Requisiten stellte, ganz so als gelte es, Raimund zu spielen oder ein freundliches und lehrreiches Märchenspielchen von Fulda. Aber Wedekind ist Gegenwart, er hämmert mit verkrampften Fäusten an die Tore der Zeit. Doch der Regisseur weiß, daß ein naturalistisches Milieu heute als altmodisch verpönt wird und verbannte deshalb Wedekind auf eine Andeutungsbühne mit phantastischen Kostümen. Und verurteilte die Darsteller zu einer abgehackten Sprache von unmöglicher Stilisierung, brachte sie um ihre Natur, machte sie zu Marionetten.

Wedekind ist groß, und Karl Hetmann ist sein Prophet! Beide hat man sie depossediert, ihrer Anklage den Stachel geraubt und an die Stelle des leidenschaftlichen Lebens die frostige Allegorie gesetzt.

Ludwig Hartau war bei alledem stark und am echtesten, wenn er mit der sympathischen blonden Charlotte Schultz zusammenspielte, die sich um keinen »Stilwillen« der Regie kümmerte, sondern mit unverbildetem Gefühl ein junges liebendes Weib gestaltete. Auch Johannes Riemann überraschte durch eine mit dämonischer Laune durchsetzte Charakterstudie eines Theaterschurken.

Berliner Volks-Zeitung, 19. November 1921


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