Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

207

Kokain

Ihr irrt sehr, wenn ihr glaubt, daß die hohe Obrigkeit oder die Parteien oder eine sonst von Menschen eingesetzte und von Gott geduldete Instanz dieses Land allein regiere. Es gibt Geheimmächte, die mit stärkerer Hand herrschen als jene, über deren Tätigkeit man sich seit geraumer Zeit nicht mehr wundert. Mit dem Stimmzettel und der Steuerquittung ist dieses Sein nicht erschöpft. Kann man die Menschen zählen, die heute den dunklen Vorhang hinter sich beiseite ziehen und den öffentlichen Rausch mit dem privaten vertauschen? In großen Städten sind ganze Straßenzüge vergiftet, einer teilt das Geheimnis dem andern mit, und jeder beißt an. Die Pädagogen ringen die Hände (soweit sie eine Ahnung davon haben, und meistens haben sie es nicht), die Juristen schicken hin und wieder einen Händler hinter schwedische Gardinen und zerbrechen sich in der ihnen sonst noch zur Verfügung stehenden Zeit den Kopf darüber, mit welchem Paragraphen man Schnitzlers »Reigen« doch noch zur Strecke bringen könnte. Wie wenige ahnen, welch ein Reigen da täglich, stündlich um sie getanzt wird und wie die Seuche kriecht von Mann zu Mann, von Weib zu Weib, in einem langsamen Tempo, aber mit entsetzlicher Beharrlichkeit. Warum hat die Jugend eingefallene Wangen und hohle Augen? Leidet sie unter der Schmach des Versailler Friedens oder weil zum zweitenmal in wenigen Jahren ein Hilferuf nach Amerika erging? –

Eigentlich ist gut, daß so wenig Menschen daran denken, die Kokainepidemie zu bekämpfen. Eine größere Aktion würde die erschreckende Ohnmacht aller Abwehrbestrebungen kraß zutage treten lassen. Ich denke trotz dieser traurigen Konstatierung nicht daran, einen Defaitismus dieser unheimlichen Massenerkrankung gegenüber zu predigen. Nur hüte man sich vor dem Feldzug mit Traktätchen. Kokain gehört zum Krankheitsbilde unserer Zeit wie Arbeitslosigkeit, Geldentwertung. Militarismus, Geheimdiplomatie und Lustseuche. Jeder Versuch einer Spezialkur muß mißlingen, ehe nicht das Lazarett, in dem wir alle hausen, gründlich gelüftet und gereinigt wird. Es gilt, die Ursachen zu erkennen und nicht die Wunde mit Salbe zu bepinseln. Wenn die Menschen sich betäuben, so müssen sie auch eine Veranlassung haben, dieser Wirklichkeit entgehen zu wollen.

Die bürgerliche Gesellschaft hat Großes vollbracht. Ihre zivilisatorischen Leistungen kann der rabiateste Moskauanbeter nicht wegwischen. Aber sie hat das Dasein entsetzlich eintönig gemacht, hat mechanisiert, schematisiert, numeriert und taylorisiert. Sie hat selbst den Krieg zu einer Angelegenheit der Regie gemacht. Aber da verlor sie die Zügel. Nicht nur die wilden Triebe brachen los, aller Reglements der Inszenierer spottend, auch die Sehnsucht nach Buntheit, nach bewegtem Leben, nach unentdeckten Regionen wurde übermächtig.

So kamen die Menschen wieder. Und siehe, da warteten Fabrik, Bureau, Warenhaus. Warteten kategorische Imperative, die ihnen im Trommelfeuer oftmals komisch erschienen waren. Und sie fanden ein Mittel zur Überwindung, wie es nur ein allzu früh abgenutztes Geschlecht finden kann. Wem der Weg zum Paradies zu weit ist, der findet gewiß ein künstliches.

Und bedeutet das alles nicht, daß wieder einmal eine Zeit abgelaufen ist? Am Aufgang, da glüht das Feuer, ja, am Beginn steht immer der heilige, unbewußte Rausch. Und am Ende stets der gewollte.

Monistische Monatshefte. 1. Juni 1921


 << zurück weiter >>