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Rußlands Totentanz Der Anmarsch der Hungerarmee

Rußland kann nicht mit Lebensmitteln und Medikamenten, sondern nur mit Kanonen geholfen werden.

Deutsche Tageszeitung, 2.8.1921

Aus den Hungerdistrikten Rußlands, aus den Wolgagebieten, aus Samara, aus Tambow, Pensa und Woronesch wälzt sich eine ungeheure namenlose Masse Moskau entgegen. Auf sechs Millionen veranschlagt das amtliche Organ der Sowjetregierung die Heerscharen der Flüchtigen. Menschen, die vor dem Hunger fliehen, der doch in ihren Eingeweiden nagt, Ausgedörrte, die mit letzter verzweifelter Energie, den Tod im Herzen, vorwärts eilen, um dem Entsetzlichen hinter sich zu entweichen, das sie doch keinen Augenblick verläßt. Sie plündern mit der Gier eines Heuschreckenschwarms, sie sättigen sich an allem, was am Wege liegt. Die Cholera räumt furchtbar auf. Alle natürlichen menschlichen Bande sind gesprengt, der Urständ der Natur kehrt zurück: die Eltern lassen ihre Kinder in den toten Städten verrotten und heften das eigene elende Leben an die unerhörte Prozession der vor Hunger und Entbehrung wahnwitzig Gewordenen. Eine Vision, grauenvoll wie die kranken Phantasien der Apokalypse, niemals gewesen seit den Tagen, da der Hunnenkönig die Völker eines Kontinents vor sich hertrieb ...

*

Der »Deutschen Tageszeitung«, dem Zentralorgan der sattesten Existenzen Deutschlands blieb es vorbehalten, diesen Zug des Grauens mit kaltem Sarkasmus zu kommentieren. Warum hat die Entente die weißen Generale nicht genügend unterstützt? das ist der Sinn der Ausführungen des Agrarierblattes. Gewiß, dann wären Millionen auf dem Schlachtfelde verblutet, die heute der Hungerseuche zum Opfer fallen. Nur fort mit dem skrofulösen Gesindel, nur keine Sentimentalität! Es steckt Methode in dieser Verruchtheit und sagt denen, die noch immer nicht sehen können, was dem deutschen Volk blüht, wenn dergleichen wieder einmal zur Herrschaft kommt. Aber das deutsche Volk will helfen, will mit seinen schwachen Kräften helfen, denn in seiner großen Mehrheit hat es selbst die Knochenhand des Hungers an der Gurgel gespürt.

*

Sechs Millionen vom Hunger vorwärtsgepeitscht, zu einem gigantischen Totentanze vereint. In Blut und Schmutz endet ein Regiment, das der Welt die Erlösung bringen wollte. Rußland kratzt die dünne Tünche der europäischen Zivilisation ab und wird wieder das, was es war, ehe ihm der große Peter westliche Sitten einprügelte: das gewaltige asiatische Barbarenland. Stumpf und verzweifelt wälzt das verhungernde Volk sich Moskau entgegen. In schlimmerem Zustande als vor mehr als hundert Jahren die Soldaten des Imperators die deutschen Grenzen zu erreichen suchten. Vertausendfacht das Grauen jenes Rückzuges, für das der deutsche Dichter Richard Dehmel sein vielleicht gewaltigstes Bild gefunden hat:

... über Rußlands Leichenwüstenei
faltet hoch die Nacht die blassen Hände,
glänzt der dunkelrot gekrümmte Mond,
eine blutige Sichel – Gottes ...

Berliner Volks-Zeitung, 3. August 1921


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