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Caillaux' Rechenschaftsbuch

Soeben ist im Rhein-Verlag in Basel eine deutsche Ausgabe des berühmten Werkes von Joseph Caillaux erschienen, das den Titel führt »Meine Gefangenschaft« und das wir jedem Deutschen, der in Politik mehr sieht als das Irrlichtern von Parteien, ganz dringend ans Herz legen. Nicht, weil Caillaux stets von der deutschen Presse gern zitiert wurde, nicht, weil er bei uns im Geruch der »Deutschfreundlichkeit« steht, nicht, weil er ein rotumflackertes danteskes Gemälde des heutigen Frankreich entwirft, sondern weil er einer der wenigen bedeutenden Staatsmänner der Welt war, die in der Stunde des Kriegstaumels kühlen Kopf bewahrten und Europa höher stellten als ihr Vaterland. Man hat ihn in den Kerker gesperrt, man hat ihn unsäglich leiden lassen, man hat ihn, da man als Gipfelung des Verbrechens schließlich doch das Todesurteil nicht wagte, für Jahre mundtot gemacht. Sein Buch ist keine jener albernen Ludendorffereien, kein Glied jener Rechtfertigungsliteratur. Sein Buch ist eine einzige leidenschaftliche Anklage gegen jene Scharen von Lemuren, die den einsamen und aufrechten Mann umzingelt und schließlich lebendig in die Grabkammer gesperrt haben. Aber wie der Haß eines echten Menschen noch immer fruchtbarer ist als das Wohlwollen des lieben Durchschnitts, so schafft auch der unerhörte Affekt des Caillaux nicht wüste Strecken, sondern Ausblicke auf schönes, blühendes Land. Nicht Abrechnung, nicht Wundenschlagen allein ist sein Amt, sondern mehr noch: die Paroleausgabe für eine bessere Zukunft, für eine europäische Gemeinschaft.

Es ist außerordentlich schwer auf gedrängtem Raum ein Bild des Politikers Caillaux zu zeichnen. Der Mann, der vor 10 Jahren noch als Führer der besten bürgerlichen Demokraten Frankreichs in den Tagen von Agadir den Frieden Europas rettete, ist eine seltsame Mischung von schärfstem und kühlstem Kalkül und hohem ethischen Idealismus. Er galt mit Recht als glänzender Finanzmann und Verwaltungstechniker; aber das wäre in den Tagen des gesteigerten Kapitalismus immerhin nichts Einzigartiges. Was ihm seine Bedeutung gibt – und allerdings auch seine Isoliertheit vervollständigt! – das ist sein lebendiges Gefühl für die großen freiheitlichen Traditionen seines Vaterlandes. Er wurzelt tief in den Ideen von 1793, so tief, daß sie bei ihm nicht rhetorische Ornamentik bleiben, wie etwa bei Millerand oder Clemenceau, sondern ihn zur Aktion treiben für ihre neue Verlebendigung und Ausgestaltung unter ganz anderen Verhältnissen. Er steht als Advokat und Finanzpolitiker inmitten der Welt des Besitzes, doch er verabscheut eine Großbourgeoisie, die nur noch friedlich verdauen will. Er hört das Grollen unter der Erde, er ahnt die Sehnsucht der Arbeitermassen, und es wird sein Wille, in einem großzügigen synthetischen Ideenkomplex das Beste vom Alten und das Beste vom Neuen zu vereinen. Der ruhige und sachliche Finanzmann trifft sich mit dem glühenden Jaurès. Da sind aber auch die tiefsten Gründe seines Sturzes zu suchen. Gegen den rücksichtslosen Steuerreformator richtete sich der Haß der hart mitgenommenen Banken und Börsen und ihrer offenen und geheimen Sachwalter in Kammer, Senat und Regierung. Gegen den Republikaner und Pazifisten, der die Übernationalität modernen Kultur- und Wirtschaftswesens erkannt hatte, richtete sich der Haß der nationalistischen, militaristischen, royalistischen und klerikalen Konventikel. Der Krieg vermanschte die ganze Sippe zu einem einzigen »nationalen Block«. Der Eingänger mußte ein stiller Mann werden.

Und nun trotz alledem seine Stimme laut dröhnt, drängt sich die Frage auf: Wird Caillaux nochmals wiederkehren? Es wäre nicht das erstemal, daß ein lange verfemter Mann schließlich mit Ehren zurückgeholt würde. Das war das Schicksal seines grimmen Gegners Clemenceau, war auch das Schicksal Giolittis. Aber Caillaux' Rückkehr wäre mehr als die triumphale Rechtfertigung eines einzigen Mannes, wäre die Rechtfertigung einer Geisteswelt und zugleich die tödliche Niederlage jener andern, die sie in Ketten gelegt hat. Vielleicht aber werden noch Jahre vergehen, bis dazu die Zeit reif ist. Sicherlich wird Caillaux nicht kommen wie der Gott aus der Theatermaschine. Dazu sind die gegenstrebenden Kräfte noch zu stark. Aber sein Geist wird ausstrahlen, sein Geist wird, unmerklich, Wandlungen bewirken, wird das Frankreich Poincarés zurückleiten zu jener alten freiheitsliebenden Nation, die die Mutter der Revolutionen gewesen ist. Erst wenn der Geist Caillaux wieder sein Bürgerrecht erworben hat, wird auch für die Person Caillaux wieder Platz sein ...

Dieses Buch ist das erste Signal zu einer Offensive. Durch und durch problematisch und mit verschiedenartigem Inhalt angefüllt, wie der Mensch, der es schrieb. Heiß in seinem Haß, zerfetzt wie unsere Zeit, aber hell in seiner Sehnsucht. Eine besondere Anerkennung dem Verdeutscher Victor Henning Pfannkuche, der in einer Sprache von fabelhaftem Nuancenreichtum die Seele des Originals aufgefangen hat. In solchem Deutsch wächst Caillaux' Werk über seinen Aktualitätswert hinaus für uns zu einem wahrhaften Epos, zu dem man gern noch greifen wird, wenn unsere Enkelkinder über jene Affären lächeln werden, die Europas Jugend früh und traurig unter den Rasen gebracht haben.

Berliner Volks-Zeitung, 30. Juni 1921


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