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Erwachen in Frankreich? Die Linke geht in Front – Die Sammlung der wahren Republikaner

Es kam in der vergangenen Woche in der Pariser Kammer zu einem stürmischen Auftritt, wie er früher, in den erregten Zeiten des Ministeriums Combes, nicht selten war. Ein Abgeordneter der bürgerlichen Linken wurde von einem Mitglied des nationalen Blocks als »Agent der Feinde« beschimpft. Es gab Tumult und der Präsident mußte eine Pause zur Besänftigung der erregten Geister eintreten lassen.

Dieser Insult ist an und für sich läppisch. Es wird außergewöhnlich schwer fallen, heute einen Franzosen zu finden, der sich mit deutscher Valuta kaufen ließe. Bemerkenswert ist nur, daß der beleidigte Abgeordnete Herr Herriot ist, der soeben mit einer Anzahl radikaler Deputierter die »Liga der Republik« gegründet hat. Die Beschimpfung in der Kammer war der Tusch, mit dem die Schildknappen Léon Daudets und der »Action Française« die neue parlamentarische Gruppe begrüßten.

Man braucht diese Neugründung nicht mit überschwenglichen Hoffnungen zu begrüßen; es genügt die Konstatierung, daß auch die Siegeseichen des nationalen Blocks nicht in die Wolken wachsen. Schon längst war der Kanonendonner der verschiedenen chauvinistischen Gruppen mit Feuerwerkskörpern bewerkstelligt worden. Daß heute die durch den Terror der »heiligen Einigkeit« eingeschüchterte bürgerliche Linke wieder Selbständigkeitsregungen an den Tag legt, beweist, daß die Täuschung nicht mehr verfängt und daß auch bürgerlich demokratische Kreise den Nationalismus mit der Reaktion zu identifizieren beginnen. An der Spitze der neuen Liga stehen der bereits erwähnte Herr Herriot, ferner Herr Jean Hennessy, der in der ganzen Welt rühmlichst bekannte Mann mit den drei Sternen und Herr Painlevé, der im Kriege eine Zeitlang Ministerpräsident war, als solcher ziemlich unverhohlen den Verständigungsfrieden erstrebte und endlich von Clemenceau beiseite geschoben wurde.

Das Programm, vorderhand vorsichtigerweise als »Studienprogramm« bezeichnet, stellt einen interessanten Tastversuch dar, wieweit die Situation für innen- und außenpolitische Neuorientierung reif ist. Gefordert wird unter anderem die Herabsetzung der militärischen Kosten bis zu den äußersten Grenzen militärischer Notwendigkeit, Mitarbeit Deutschlands beim Wiederaufbau in weitestem Umfange und in jeder Form, Sicherung des Friedens durch Ausdehnung und Kräftigung des Völkerbundes, zu dem alle Staaten zugelassen werden sollen unter Einschränkung der souveränen Rechte des Einzelstaates zugunsten des Völkerbundes.

Ein Studienprogramm nur. Aber in dieser zahmen Form bereits eine Herausforderung der heutigen Kammermehrheit, ein Attentat gegen die Mentalität der Clemenceau, Poincaré und Tardieu. Ob indessen die Liga Herriots und Painleves ihr Ziel, die erneute Sammlung der Linken, erreichen wird, hängt im wesentlichen davon ab, ob erwachende Einsicht die Sozialisten endlich von ihrem Moskauer Isolierschemel drängen wird. Wenn das auch die Vorbedingung zu einem erfolgreichen Vorstoß ist, so darf man doch gespannt sein, wie das französische Bürgertum diese Auferstehung der alten radikalsozialistischen Partei, die von den Dreyfus-Kämpfen bis 1914 die bürgerlich-republikanische Partei par excellence und Hüterin der Traditionen des alten freiheitlichen Frankreichs war, aufnehmen wird. Der Parteikongreß von Lyon hat jüngst eine Entschließung angenommen, in der die Revision der Prozesse Caillaux und Malvy gefordert wird. Ein nochmaliges Zustandekommen der alten Kampfgemeinschaft Combes-Jaurès in der Form einer Koalition von Herriot über Longuet zu Cachin und den Neukommunisten, das müßte allerdings den tarpejischen Fels des senil gewordenen »bloc national« bedeuten, und die »Liga der Republik « würde zum Triumphbogen für den wiederkehrenden Caillaux.

Berliner Volks-Zeitung, 3. November 1921


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