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»Charleville«

Der bekannten Untersuchung Friedr. Wilh. Försters »Zur Beurteilung der deutschen Kriegsführung« reiht sich eine soeben erschienene Schrift gleicher Tendenz an, die in möglichst weite Kreise getragen werden sollte, nicht allein, um den heute noch Ahnungslosen einen Begriff von der Entartung des deutschen Etappenlebens zu geben, sondern vor allen Dingen, um die Stimmung des französischen Volkes uns gegenüber verstehen zu lernen. Wenn heute in den besetzten Gebieten die deutsche Bevölkerung mit unsinnigen administrativen Maßnahmen schikaniert wird und französische Offiziere und Soldaten sich wie rechte Landsknechte aufführen, so sollte man weder in Klagen noch Verwünschungen ausbrechen, sondern die psychologischen Unterlagen dieses Verhaltens zu erfassen suchen. Einen Weg dazu bietet eine kleine, aber unendlich inhaltreiche Schrift: Charleville. Dunkle Punkte aus dem Etappenleben. Von Dr. Wilhelm Appens (Verlag Gerisch u. Co., Dortmund. Preis M. 1.20).

Der Verfasser, ein Dortmunder Oberlehrer, war von 1914 an bis zum Zusammenbruch in Charleville, und zwar in Bureauposten, die ihm Einblick in alle Verhältnisse gestatteten, auch in solche, die dem »Lanzer« sonst verschlossen blieben. Er war in der ersten Zeit dem Verpflegungsoffizier des großen Hauptquartiers zugeteilt gewesen; später versah er Dienst als Quartiermacher. Was diese Ämter mit sich brachten, die »Requisitionen« (zuerst mühsam verhüllte, später zynisch offene Diebstähle), Grausamkeiten gegen eine Bevölkerung, die von Haus und Hof gejagt wird, um für Stabsoffiziere mit Paschaallüren »Quartier« zu schaffen, das schildert Dr. Appens sehr eingehend und sachlich. Nur hin und wieder unterbricht die natürliche Entrüstung des anständigen Menschen über die Ausschreitungen eines überheblich gewordenen Militarismus den ruhigen Fluß der Darstellung. Für den Leser aber hat es etwas Grausiges, zu erfahren, wie hinter den Schrecknissen der Front eine Sybaritenstadt entstand, wie Menschen gequält, beraubt, versklavt wurden, nur um den Capricen der betreßten Ganz- und Halbgötter gerecht zu werden. Denn nicht um die Bedürfnisse der Soldaten handelt es sich hier, nicht um die natürlichen Folgen des rauhen Krieges, sondern um das ruchlose Luxusleben einer an Zahl beschränkten Kaste. Vom Herbst 1914 bis Januar 1916 war Charleville Sitz des großen Hauptquartiers; nach dessen Abzug wurde es Hauptquartier des Kronprinzen. Gierigen Insektenschwärmen gleich überfluteten die hohen Stäbe, die Inspektionen, die zahllosen militärischen Behörden das freundliche Maasstädtchen, um alles, aber auch alles wegzufressen, die Wohnungseinrichtungen fortzuschaffen, und was sich nicht fressen oder transportieren ließ, zu zerstören. Vier Jahre Etappe haben aus einer blühenden Menschensiedlung einen Trümmerhaufen gemacht, ein modernes Troja oder Palmyra. Als der letzte Rückzug erfolgte, wurden zum Abschied alle Brücken und Bahnhöfe in die Luft gesprengt.

Der Verfasser entrollt in anschaulichen Bildern das Leben und Treiben der hohen Herrschaften mit ihren Trabanten. Wir blicken in ihre Gelage. Wir sehen die jungen Herren in Phantasieuniformen promenieren, wetteifernd mit den Drückebergern des kaiserlichen Automobilkorps. Es fehlen auch nicht kokette »Helferinnen« (denn es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei). Die traurigen Gestalten der Kriegsberichterstatter werden lebendig, ebenso ihr gestrenger Mentor, der Major Nikolai. Und mitten in diesem Blocksbergtreiben wandeln die fremden Militärattachés und schütteln die Köpfe. Die Gevatternwirtschaft ist unglaublich; Charleville ist eine Lebensversicherung, die sich jeder Herr von Rang und Ansehen mit allen Mitteln ganz oder vorübergehend zu erkaufen sucht. In seinen katzenjämmerlichen Stunden überfällt den Militarismus die Arbeitswut; er will organisieren. Dann wird die Tragödie zum Scherzspiel. Bald soll, allen sachverständigen Urteilen zum Trotz, Getreide angebaut werden, bald wird eine umfangreiche Marmeladenfabrik in Betrieb gesetzt. Infolge schlechter Ernte ist kein Obst vorhanden. Der leitende Offizier muß einen Posten retten. Schleunigst wird das nötige Obst aus – Rumänien herbeigeschafft. Geld ist überhaupt reichlich vorhanden. Um es S.M. und seinen Gewaltigen recht wohnlich zu machen, werden Unsummen für Umbauten verschleudert. Nach Wilhelms Abzug kommen noch recht viele hohe Kommandos. Und jedesmal wird das Städtchen auf den Kopf gestellt. Kasinos schießen wie Pilze aus der Erde; um irgendeine Laune zu befriedigen, entstehen pompös ausgestattete Reitbahnen und Garagen. Die Einwohner werden aus ihren Häusern gejagt, ihre Möbel wandern von einem Stabsoffizier zum andern und schließlich in den Zug nach Deutschland. Den Beraubten werden Gutscheine ausgestellt an – den französischen Staat. Später verzichtet man auch auf diese Formalität. »Der liebe Gott zahlt alles!« ruft in einem Fall ein schnodderiger Bengel den Besitzern zu. Ein alter französischer Offizier, Invalide von 1870, ein gelähmter Greis, muß seine Wohnung räumen. Er liegt im Rollstuhl, die Anverwandten bitten den Fronvogt, einen Herrn Grafen, um Schonung. Erfolglos. Der gnädige Herr fuchtelt mit der Reitpeitsche in der Luft herum und brüllt Verwünschungen gegen das »verfluchte Franzosenpack«. – Unermüdlich sind die Herren auf der Freudenjagd. Es gibt bald keinen Weinkeller mehr, aus dem nicht die letzte Flasche herausgeholt ist. Der deutsche Dichter Walter Bloem (damals Major) hält dem Verfasser eine Standpauke, weil der Burgunder nach Korken geschmeckt habe. Gewaltige Sorgen, nicht wahr? Heerführer, in der Heimat als große Feldherren und »Soldatenväter« gefeiert, überraschen durch eine ins Läppische gesteigerte Launenhaftigkeit. Vier Wochen vor der Novemberkatastrophe(!) kommt Exzellenz v. Mudra nach Charleville. Eine Villa wird instand gesetzt. »Exzellenz liebt keine Geräusche ...«, Teppiche und Läufer werden doppelt gelegt, »Exzellenz liebt Bilder, aber nicht diesen französischen Kitsch ...«, »Exzellenz kann unmöglich bei diesen elektrischen Lichtanlagen arbeiten ...« Man muß also Bilder herbeischaffen und sich zu Beleuchtungseffekten versteigen, die eher ins Varieté gehören. »Exzellenz blickt gern auf einen wohlgepflegten Garten ...« In Eile wird, im Oktober(!), der Garten hergerichtet. Endlich zieht Exzellenz ein. Alles wartet in höchster Aufregung. Wird Exzellenz zufrieden sein? Da, es klingelt! Exzellenz ist nicht zufrieden. Wo ist der Etappenkommandant, wo die Adjutanten? Der Ofen raucht.

Hin und wieder Zwischenspiele von einer etwas aufreizenden Heiterkeit. Die » Jungmannen« kommen. Tausend Schüler von norddeutschen Gymnasien, um bei der Obsternte zu helfen. Ein Pauker, als Major kostümiert, führt diese Garde. Mit klingendem Spiel geht's durch die Stadt. Den Franzosen zum Gaudium, den anwesenden Frontsoldaten zum Ärger. Leider gibt's in dem Jahre kein Obst. Jeder Gymnasiast erhält fünf Mark Tagegeld. – Aber der Militarismus kann nicht nur Geld auf die Straße werfen, er kann auch die Menschenausbeutung in ungeahntem Maße betreiben. Die ausgesogene Bevölkerung wird zu Zwangsarbeiten gepreßt. Besonders die Kinderarbeit wird mit grausiger Konsequenz organisiert. An langen Tafeln sitzen die unglücklichen, zum Wollezupfen verurteilten Würmer. Sie quälen sich, erbarmungslos angetrieben, mit ihren zarten Fingern die Knäuel zu entwirren. Man hat sie in der Umgegend »requiriert«. Sie hausen in Massenquartieren. Bei Nacht kommen die Mütter durch die Postenketten geschlichen, ihre letzten Goldstücke in der Hand, Eier und Butter in den Tüchern, um die Wächter anzuflehen, ihnen ihre Kinder wiederzugeben. »Die historische Sünde an dem jungen französischen Geschlecht wird noch lange auf dem deutschen Volksgewissen lasten«, so schließt der Verfasser diesen Abschnitt.

Ein weniger bekanntes, aber nicht weniger unrühmliches Kapitel bilden die » Industriehyänen«, deutsche Unternehmer, die alle Fabrikräume nach Brauchbarem absuchen und von Zivilarbeiterkolonnen abholen lassen. »Über diesem ganze Getue lag die lange Schwüle des bösen Konkurrenzgewissens«. Schließlich übernahm das Militär die Regie. In großen Depots wurde das »Gesammelte« aufgespeichert, um dann abtransportiert zu werden. In der Präfektur von Mézières etablierte sich eine Art von Diebeszentrale. Offiziell hieß sie »Abteilung Beute beim Generalquartiermeister«.

Durchaus recht geben muß man dem Verfasser, wenn er diesen Etappengeist als nicht von deutscher Art bezeichnet. Hier ist eine tiefe Kluft geschaffen worden zwischen zwei Völkern. Was an der Front geschehen ist an Furchtbarem, es hat die Seelen der Völker nicht so gründlich mit Haß durchtränkt wie diese Etappenbarbaren. Denn hier kommt die Verachtung hinzu. Wir danken dem Verfasser, daß er offen ausspricht, was er erlebt hat. Er zeigt jedem, der nicht ganz von Gott verlassen ist, die Ursachen des Zusammenbruchs. Und heute spreizen sich die Schuldigen wieder und wagen es, dem Ärmsten der Armen, dem Frontsoldaten, die Last der Verantwortung aufzubürden. An seiner Willkür, Überheblichkeit und Herzlosigkeit ist das alte System zugrunde gegangen. Charleville ist ein kleines Kapitel nur aus einem großen Schwarzbuche. Aber neben Lille vielleicht die beschämendste Etappe auf dem Wege nach Versailles.

Berliner Volks-Zeitung, 30. November 1919


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