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Reigen-Schluß
Zu einem politischen Prozeß

Endlich ist der Spruch im »Reigen«-Prozeß erfolgt. Das Gericht hat, wie nicht anders zu erwarten war, alle Angeklagten freigesprochen. Ein gefährliches Attentat auf die Freiheit der Kunst ist abgeschlagen worden. Das hindert nicht, daß jetzt eine sehr gründliche Erörterung einzusetzen hat, wie dieses ganze Verfahren überhaupt möglich wurde und wie der Vertreter der Anklage es wagen konnte, einen Strafantrag zu stellen, der jedem Rechtsgefühl ins Gesicht schlagen mußte. Die ideellen Kosten der Niederlage trägt der übereifrige Herr Brunner, der Generalstabschef der Aktion, die materiellen Kosten leider der deutsche Steuerzahler. Die Staatskasse ist kein Kriegsschatz für allerhand possierliche Sittlichkeitskämpfer, die niemand ernst nimmt als der Staatsanwalt und sein Brunner.

Wo zwei Menschen sich küssen, da schleichen
die andern vorüber; wo sie sich prügeln, da
stehen alle als Chorus herum.

Wie so vieles andere, hat auch dieses nette Epigramm Hebbels heutzutage seine Geltung verloren. Man schleicht nicht mehr vorüber, wo zwei sich küssen, sondern man nimmt Ärgernis. Und es gibt auch eine Zentralstelle, die alle diese an sich durchaus verschiedenartigen Ärgernisse sammelt und zu einem frontalen Vorstoß in Reih' und Glied stellt. Wer hat denn Ärgernis genommen? Das Gros der Zeugen gehört irgend welchen deutschvölkischen Winkelvereinen an, andere, die sich von diesen durch größere Bildung und kultivierteres Auftreten unterschieden, kommen aus der protestantischen Orthodoxie, deren Stellung zur modernen Kunst ja sattsam bekannt ist. Sind wir anderen, Demokraten und Sozialisten, nun eigentlich von Grund aus unsittlicher und verderbter als diese? Wohnen wir also der »Vornahme einer unzüchtigen Handlung« durchweg als hocherfreute Zuschauer bei? Neigen wir infolge unserer politischen Einstellung von vornherein zu Perversitäten? Ist die Tugend das Prärogativ derer um Kunze, Schlaikjer und Lebius? Kein vernünftiger Mensch wird das bejahen, aber bejaht muß leider werden, daß in rechtsorientierten Kreisen heute eine tugendstolze Anmaßlichkeit vorherrscht, eine Sucht, dem politischen Gegner jeden noch so abenteuerlichen Exzeß zuzutrauen, und daß diese Einstellung wirklich ein viel größeres, öffentliches Ärgernis bietet als die Darstellung einiger etwas massiver Liebesszenen auf der Bühne. Damit erhalten die Zimperlichen einen wesentlichen Sukkurs; die Protestbewegung überängstlicher Gemüter, die angstvoll zusammenschrecken, wenn öffentlich gesagt wird, daß Kinder nicht mit der Nähmaschine fabriziert werden, erhält durch den Zuzug von Rechts einen durchaus politischen Charakter. Herrn Brunner gegenüber, der das bestritt, muß immer wieder hervorgehoben werden, daß nicht die sanfte Dame von der Bahnhofsmission das Charakteristikum der Entrüstungsbewegung bildet, sondern die völkischen Stinkbomben-Matadore vom 22. Februar, zum Kampfe gegen die Republik ist jedes Mittel recht. Und ist es nicht ein auf die Allzuvielen wunderbar wirkendes Argument, daß seit der Revolution, natürlich unter der »Judenherrschaft«, unsere Theater zu Stätten der Unzucht geworden sind?! Mag Herr Brunner sich noch so aufgeregt verwahren, die ganze Protestiererei trug sichtbarlich das Hakenkreuz auf der Stirn. Mit unwiderleglicher Schärfe wurde seitens der Verteidigung festgestellt, daß die Aussagen der Zeugen auf eine einheitliche Information schließen ließen, daß die meisten der Damen und Herren Anstoß genommen hatten an Dingen, die überhaupt nicht vorgefallen waren. Die Attacke richtete sich rein äußerlich gegen den »Reigen«, in Wirklichkeit galt dieser Stoß der Kunst überhaupt, die sich nicht unter ein völkisches Joch beugen lassen will und lieber zu Apollo und Aphrodite betet als zu Wotan und Thor. Aber letzten Endes war der höhere Zweck die Infamierung der Republik.

*

Wer den langwierigen Verhandlungen beigewohnt hat, wird immer wieder sein Erstaunen äußern müssen über die einzigartige Atmosphäre im Gerichtssaal. Selbst wenn Lustmörder oder Sittlichkeitsverbrecher abgeurteilt und die Delikte untersucht werden, drückt den Zuhörer nicht eine so schwüle Luft wie in diesen anderthalb Wochen. An was haben die Zeugen nicht alles Anstoß genommen? Den einen empörte der Rhythmus der Musik, den anderen die Geste einer Schauspielerin (angeblich ein Glattstreichen des Kleides), den dritten, daß der Zwischenvorhang zu lange die Szene verdeckte, den vierten, daß eine Frau ihre durchaus sehenswerten Arme ohne Flanellfutteral zeigte. Das üppigste Abenteuer Casanovas strahlte nicht so viel eindeutige Erotik aus wie die sehr eingehenden Schilderungen der keuschen Anstoßnehmer. Wie fabelhaft spürnasig doch diese Tugendhaften sind! Wie sie Kulleraugen machen, wenn plötzlich eine Gardine fällt, und sich in Kombinationen ergehen, was wohl dahinter vorgehen mag! Wolfgang Heine hatte tausendmal Recht, wenn er ausführte: diese Leute ahnen nichts von der Heiterkeit und der Melancholie eines Bühnenspiels, sie sehen nur – das Bett! Möge uns ein gütiges Schicksal davor bewahren, daß derlei »Kunstfreunde« Schule machen, die nur ins Theater gehen, um sich zu giften und nachher die Gerichte zu alarmieren.

*

»Im ›Reigen‹-Prozeß haben zwei Weltanschauungen vor den Schranken des Gerichts miteinander gerungen.

Meine Person ist ohne mein Zutun durch eine planmäßige Taktik der Angeklagtenpartei samt ihrer Presse in lärmender Weise in den Vordergrund gezogen worden. Als Zeuge und Sachverständiger geladen, habe ich lediglich meiner staatsbürgerlichen Pflicht genügt. Meine amtliche Stellung kommt dabei nicht in Frage. Ich habe schlechterdings nicht anders handeln können.

Ich hab's gewagt, gegen den Terror der Verfalls-›Kultur‹ aufrecht zu stehen und ›im vollen Gegensatz zu sämtlichen Sachverständigen‹ unter meinem Eid ein ehrliches, wohlbegründetes Bekenntnis zu christlich-deutscher Sitte und Sittlichkeit abzulegen. Wohl nur wer diese bekämpft, wird mich darum schmähen.«

Das ist zu lesen in einer Erklärung, die Herr Professor Brunner noch vor Urteilsfällung an die Zeitungen versandte. Weiterhin ist darin von »Vergewaltigung der Gewissensfreiheit« die Rede und daß Herr Brunner gegen Wolfgang Heine wegen »verleumderischer Beleidigung« Strafantrag gestellt habe. Der große Sittenwächter hat also aus dem für ihn so blamablen Prozeß nichts gelernt und zieht es vor, seine offenkundige Schlappe durch neue Finten zu kaschieren. Im übrigen steckt in dieser »Erklärung« der ganze Brunner, so wie er sich vor Gericht produzierte. Dieselbe Engstirnigkeit und Intoleranz, die ihn sich in »vollen Gegensatz zu sämtlichen Sachverständigen« setzen ließ, die diesen Namen mit weit mehr Berechtigung trugen. Aber auch die Überheblichkeit ist die gleiche geblieben und ebenso der mangelnde Sinn für die Grenzen der unfreiwilligen Komik. Soll man denn ernst bleiben, wenn ein Mann, der eine ziemlich ansehnliche Macht repräsentiert, die Staatsanwaltschaft mobil macht und gegen ein Theaterstück, das seine Philistermoralität empört, über »Vergewaltigung der Gewissensfreiheit« zetert, nur weil von seiten der Verteidigung seine Sachkenntnis und seine Motive untersucht wurden?! Möglich, daß Herrn Brunner ein Gruseln überfiel, als der deutschvölkische Acheron zu schäumen begann. Aber nimmermehr kann er abstreiten, daß er die treibende Kraft der ganzen Protestaktionen war, daß er mitgewirkt hat bei der Redaktion der Strafanzeige. Und spricht nicht dieses pathetische Bekenntnis zu »christlich-deutscher Sitte und Sittlichkeit« Bände? Die kundigen Thebaner auf der Rechten verstehen solche Signale und sind glücklich über jeden, der zu »christlich-deutscher Sitte« (oder was er darunter versteht) lärmend Bekenntnis ablegt und vor den Schranken des Gerichts, anstatt offen und frei herauszusagen, was seine Sache ist, sich in rhetorischen Schnörkeln von anfechtbarem Geschmack verliert, wie: »Ich bin der Brunner, ich führe die heilige Sache des Volkstums.« Niemand wird Herrn Brunner die guten Absichten absprechen. Aber niemand auch, der nicht gerade zu dem Fetisch der »christlich-deutschen Sitte« betet, wird es erlauben, daß sich ein Mann, der sich aus irgendwelchen unerforschlichen Gründen als Gesund-Brunner des deutschen Volkes etabliert hat, die Oberaufsicht über die Kunst anmaßen darf. Es ist jetzt an der Zeit, daß dieser leidenschaftliche Ephorus endlich an einen Platz gestellt wird, wo er seine Nerven schont und der ohnehin hart mitgenommenen Staatskasse weniger Kosten macht.

*

Das Gericht ist zu einem Freispruch gekommen. Das Gericht konnte nicht, wie der Staatsanwalt, die Gutachten angesehener Kunst- und Theaterkenner einfach ignorieren, nur um einem Bäckerdutzend demagogisch aufgestichelter Zeloten einen Festtagsschmaus zu bereiten. Dennoch bleibt ein Rest Unbefriedigung zurück: daß es überhaupt zu diesem Verfahren kommen durfte! Der »Reigen« war durch ein zivilgerichtliches Urteil in formeljuristischer Beziehung vollkommen gerechtfertigt, sogar als eine »sittliche Tat« erklärt worden. Das hindert nicht, daß unter Brunners Ägide die Staatsanwaltschaft dahinging. Dieser Rechtsunsicherheit muß ein Ende gemacht werden. Sonst haben es ein paar Banausen in der Hand, ohne viel Schwierigkeiten unser gesamtes Kunstleben unter Anklage zu stellen. Wir haben keine Zensur mehr, aber wir haben ein paar Paragraphen, die sich noch weit verhängnisvoller handhaben lassen. Wir protestieren dagegen, daß ein aufgeblähter, sittlicher Rigorismus die Möglichkeit hat, deutsche Staatsbürger zur Unmündigkeit zu verurteilen. Wo Dinge vorgekommen sind, die besser unterblieben wären, hat unsere Theaterkritik sich stets als zuverlässige Kontrollinstanz erwiesen und den Charakter Berlins als erster Theaterstadt der Welt gerettet. Denn das ist Berlin, wie Alfred Kerr mit Recht darlegte, seit dreißig Jahren. Wir haben ein großes Gut zu verteidigen und zu mehren, und es wird uns gelingen, wenn wir die Freiheit der Kunst vor läppischen Eingriffen schützen. Der »Reigen«-Prozeß ist beendet, aber beendet sein wird kaum die Unternehmungslust der Protestler. Unsere Parlamente haben jetzt die Pflicht, durch Schaffung der nötigen Rechtsgarantien und durch Ausmerzung kautschukartiger und unzweckmäßiger Gesetzesbestimmungen eine Wiederholung der betrübenden Vorfälle zu hindern.

Berliner Volks-Zeitung, 19. November 1921


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