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Die französische Invasion

In der vergangenen Saison stöhnte unsere Theaterkritik über die Überflutung der deutschen Bühne durch zwei berühmte englische Dichter. Das Geseufze hatte den Erfolg, daß im Herbst dieses Jahres Wilde und Shaw ausblieben und dafür die Franzosen eintrafen und dreiviertel aller Berliner Bühnen okkupierten. Die Herren Rezensenten sind darob nicht wenig empört. Aber an der Überfremdung unserer Theater ändert das nicht das mindeste.

Die »Tägliche Rundschau«, die, was nationale Entrüstung anbelangt, der Konkurrenz immer ein paar Brusttöne voraus haben muß, hat sich als Spezialisten für dieses Thema einen ehemaligen Jakobiner angeheuert, der mit außerordentlichem Spürsinn die Beziehungen zwischen Ästhetik und Ostjudenfrage bloßlegt. Vor zwanzig Jahren wurde dieser Tyrannenfresser a. D. in einem Grenzlande von der kgl. preußischen Obrigkeit als »lästiger Ausländer« behandelt; er weiß also aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft Quarantäne sein kann und fühlt sich auf Grund dieser Einsicht in hervorragendem Maße zur kritischen Fremdenpolizei und Paßkontrolle befähigt.

Dennoch bleibt bestehen, daß auf jeden von den Kunstrichtern erledigten Franzosen drei neue kommen. Sie haben die Szene, sie sind dran.

Hin und wieder liest man in Zeitschriften Erstaunliches über die komischen und tragischen Leistungen der letzten französischen Dramatik. Unser Unglück will nur, daß wir von diesen Herrlichkeiten nichts zu sehen bekommen, sondern nur jene armseligen Sottisen, die schon im Jahre des Herrn 1908 dem geduldigsten Theaterbesucher Gähnkrämpfe verursacht haben. Die Jaqueline und Jonjon und Madame X. und diese ganze antiquierte Pariser Weiblichkeit wirkt auch heute nicht interessanter, nachdem ihr spekulative Direktoren die alten abgetretenen Absätze durch neue ersetzt und, der Zeit entsprechend, die Kleider gekürzt haben.

Vor etwa zehn Jahren gab es ein großes Rauschen im deutschen Blätterwalde. Man beklagte das Überwiegen der Russen und sah mit Bedauern Kadelburg und Sudermann und Wildenbruch von Andrejew, Dymow, Gorki und Tolstoi in den Schatten gedrängt.

Im vorigen Winter, wie gesagt, greinte man über die Engländer, und heute sind, wie um den Unverstand der Klagen zu erhärten, die Franzosen da. Und deshalb wollen wir klüger sein und sie nicht verwünschen. Denn wer weiß, was uns für den nächsten Winter bevorsteht.

Da werden vielleicht die dramatischen Genies der Botokuden oder Tonkinesen oder der Bantuvölker längst ihren Einzug gehalten haben, und mit tränenden Augen werden wir der seligen Zeiten gedenken, da sich unsere Theatergeschäftsleute noch um Amelie kümmerten.

Berliner Volks-Zeitung. 21. Dezember 1921


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