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Die Schüsse von Serajewo

Die grause Reihe der habsburgischen Totentanzbilder hat eine traurige Fortsetzung erfahren. Einmütig ist der Abscheu vor einer ebenso infamen wie sinnlosen Untat, einmütig das ehrfürchtige Mitleid mit dem greisen Franz Joseph, der, dem fluchbeladenen Ödipus gleich, alle, die seines Blutes sind und Stützen seines müden Alters sein sollten, eines schrecklichen Todes sterben sieht. Wirklich, man glaubt, hier das Schicksal als feindlichen Dämon walten zu sehen, und es fällt schwer festzustellen, daß auch die Schüsse von Serajewo, die ganz Europa alarmierten und vielleicht für Österreichs kommendes Geschick maßgebend sind, ihre nicht allzu sehr verborgenen Ursachen haben.

Franz Ferdinand war ein Versprechen an die Zukunft, das jeder anders auslegte. Die verschiedensten Parteigruppen rechneten ihn zu den Ihrigen. Die Ultramontanen erwarteten von ihm ihr goldenes Zeitalter. Galt er doch, der Italien wenig freundlich gesinnt war, als der Mann, der diesem vom Vatikan »verfluchten« Königreich den Fehdehandschuh hinwerfen und den Freunden des Kirchenstaates Gelegenheit geben würde, im Trüben zu fischen. Ob Franz Ferdinand, der strenge Katholik, wirklich diesen hochgespannten Erwartungen entsprochen hätte? Gewiß ist nur, daß ihm die Klerikalen sehr entgegenkamen, daß er zur Festigung ihrer Machtstellung nicht wenig beigetragen hat. Der Einfluß seiner Gemahlin mag hier mitbestimmend gewesen sein. Den Jesuiten, diesen großen Kennern menschlicher Schwächen und Eitelkeiten, blieb der heiße Wunsch der Herzogin von Hohenberg, ihre Kinder erbfolgeberechtigt zu sehen, nicht lange verborgen. Man mag in ihr und ihrem Gatten Hoffnungen erweckt, man mag ihnen Erfüllung ihrer Wünsche vorgespiegelt haben. Wenigstens war die Gegenleistung großartig: Auslieferung der Schule an die Kirche, Ausschaltung jeder liberalisierenden Tendenz im Kultuswesen.

Auch den schwarzgelben Imperialisten war er eine Hoffnung. In ihm sah man den künftigen Caesar, der die Völker Österreichs mit Blut und Eisen zusammenschweißen würde. Ob er diesen Erwartungen entsprochen hätte? Auf jeden Fall darf man annehmen, daß der breitschultrige Mann mit den großen, scharfen Augen und den festen Zügen keine bloße Repräsentationsfigur gewesen wäre, sondern die österreichische Misere mit festen Händen angepackt hätte. Es wäre gewiß ein verhängnisvolles Unterfangen gewesen, nach dem Rezept »Blut und Eisen« einen entscheidenden Gang mit dem machtlüsternen Slawentum und seiner Vormacht, dem Zarismus, zu wagen; aber so arg ist der nationale Jammer Österreichs, daß auch dieser ungeheuerliche Plan menschlich und politisch eine gewisse Rechtfertigung für sich hat. So ist Franz Ferdinand vielleicht gestorben wie Heinrich IV. von Frankreich, der den Schüssen des irren Fanatikers Ravaillac erlag, als er die letzten Schritte zu einem Weltkriege tat. Es hätte wohl kaum in der Kraft eines Einzelnen gelegen, dem österreichischen Völkerkonglomerat seinen Willen aufzuzwingen. Aber daß er die Absicht hatte, ehrt ihn. Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem! – Und Österreich braucht einen Mann. Im Guten oder Schlimmen, einerlei! Wäre er selbst der Herzog Valentino das Ideal Macchiavellis, man müßte sein Tun segnen, wenn es ihm nur gelänge, Klarheit zu schaffen. Denn das haben die Schüsse von Serajewo in jäher Weise deutlich gemacht: daß alles, was wir in Europa an Problemen haben, neben dem österreichischen Problem klein erscheint, daß die Zukunft Europas davon abhängt, ob es gelingt, Österreich-Ungarn soweit zu konsolidieren, daß sich die vielen, vielen Menschen nicht in erster Linie als Angehörige einer Rasse, einer Nationalität, sondern eines Staates fühlen. Der Wille zum Staat! Wird der Zauberer kommen, der ihn zum Leben erwecken und zum Siege führen wird, über alle Sonderinteressen hinweg?

Wir, die Bundesgenossen, müssen das von ganzem Herzen wünschen. Aber dann müssen auch unsere Politiker gründlich umlernen. Bei aller Sympathie für Österreich: ein morbider Staat, der, wenn er überhaupt lebensfähig bleiben will, eine lange Rekreationskur durchmachen muß, kann nicht unser Verbündeter auf Leben und Tod sein. Wir müssen uns enger an den demokratischen Westen Europas anschließen.

Franz Ferdinand ist an einer Politik verdorben, deren Wurzeln jahrhunderteweit zurückreichen. Als der kleine Graf von Habsburg deutscher Spottkaiser wurde, fühlte er sich ohnmächtig neben seinen großen »Vasallen«, und er begann, sich eine Hausmacht zu schaffen. Seine Nachfolger kannten kein anderes Bestreben, als Habsburg neue Länder zu erwerben. Diese Arbeit wurde mit unheimlicher Gier getan, ohne Vernunft, ohne Sinn für das Organische. Nun leben sie heute nebeneinander, diese vielen Völker. Eins dem andern zur Last. In früheren Zeiten hatten die Deutschen vor den Slawen kulturell den Vorrang. Sie waren die Herren. Das hat sich in wenigen Jahrzehnten geändert. Das Slawentum ist erwacht und macht seine Rechte geltend. Das vergangene Jahrhundert stand im Zeichen der deutschen und italienischen Einigung; das unsrige steht vor dem Problem des slawischen Zusammenschlusses. Die Machthaber in Wien und Budapest verkannten die Situation ganz. Sie sahen nichts von dem Kulturverlangen aufstrebender Völker; sie sahen nur die Aufsässigkeit der minderwertigen Rasse gegen die Herren. Sie durchstöberten Metternichs Rumpelkammer und fanden endlich ihrer geistigen Verfassung zusagende Mittel: Polizeiterror und Tendenzjustiz. Dumpfer Trotz war die Antwort. In geheimen Konventikeln wurden eifrig panslawistische Ideen verbreitet. Die Machthaber kennen die slawische Seele nicht; sie wissen nicht, mit welch mystischer Glut den Slawen sein nationales Bewußtsein erfüllt. Dazu kam, daß man für die beiden annektierten Provinzen – Bosnien und die Herzegowina – keine Spur von Liebe hegte. Sie sollten nur den alten Plan möglich machen, auf dem Balkan festen Fuß zu fassen. Sie waren nur Etappen auf dem Wege nach Saloniki. Kulturell leistete der österreichische Staat für diese Provinzen nichts. Die Schule blieb verwahrlost; für das Bildungsbedürfnis der Bevölkerung wurde nichts getan. Das kleine Serbien arbeitet rastlos an der Ausgestaltung seiner Volksschule und gibt Geld her für die Unterstützung volkstümlicher Lesegesellschaften. Das große Österreich tat nichts dergleichen. Es erwies sich als würdiger Erbe der Türkei.

Dann kam das heiße Jahr des Balkankrieges. In wenigen Wochen zertrümmerten die verachteten Südslawen das türkische Reich. Die schwarz-gelben Grenzpfähle wackelten vor Entsetzen; denn zertrümmert waren auch die alten Ansprüche. Der »Weg nach Saloniki« war für immer versperrt. Wie sehr fehlte der Monarchie in diesen Tagen Ährenthals kluge Hand. Graf Berchtolds Politik nervöser Gereiztheit verdarb, was noch zu verderben war. Eine Blamage jagte die andere. Die siegreichen Balkanvölker wurden töricht provoziert. Für ihre Stammesgenossen in der Doppelmonarchie aber brachen schlimme Zeiten an. Am härtesten war das Los der orthodoxen Serben, die noch dazu von den katholischen Kroaten bedrängt wurden. Dabei war das Stammesbewußtsein der Serben durch die Siege der Brüder jenseits der Grenze gewaltig gewachsen. Der Gedanke eines großserbischen Reiches schuf sich immer mehr Bahn. Der gesetzliche Terror konnte die Erbitterung nur steigern. Serbische Agitatoren, zugleich fanatisch und gewissenlos, prophezeiten das nahe Ende des Regimes der Habsburger. Anti-Österreich wurde die Parole. Das Resultat verfehlter Politik, die Frucht maßloser Hetzereien – das sind die Schüsse von Serajewo. Zwecklos und unsinnig ist diese Rache, unpolitisch im höchsten Grade: denn Franz Ferdinand ist weder ein Urheber, noch ein Vertreter des Unterdrückungssystems gewesen. Aber sie zeigt doch, wie weit der Pariahaß eines geknebelten Volkes gehen kann.

Welch eine Bürde lastet auf dem jungen Menschen, der jetzt dem Throne am nächsten steht! Seit Jahrhunderten hat eine faule Diplomatie einen Fehler mit dem anderen gedeckt. Die letzten Jahre brachten furchtbare Abrechnungen. Nichts wollte mehr gelingen. Die Nationalitäten verdrossen oder in starker Gärung: überall finanzieller oder moralischer Bankrott. Der kommende Kaiser muß die Kraft haben, neu anzufangen, umzuschaffen. Die Zeit der Kompromisse ist vorüber. Den einzelnen Landesteilen muß Selbstverwaltung verliehen, die slawischen Elemente dürfen nicht mehr unterdrückt werden; sonst würden sie sich ganz der panslawistischen Bewegung in die Arme werfen, und Österreich stände vor einer Auseinandersetzung mit dem gesamten Slawentum. Das könnte aber nicht nur zu einer österreichischen, sondern auch zu einer europäischen Katastrophe führen.

Der Panslavismus ist nicht in erster Linie eine politische, sondern eine geistige Bewegung. Er will die kulturellen Kräfte, die noch im Slawentum schlummern, wecken und fördern. Soweit er geistig ist, haben wir ihn nicht zu fürchten. Aber daß ihn die Barbarei des Zarismus als Mantel für ihre dunklen Pläne benutzt, erfordert rechtzeitige Abwehr. Deutschland muß ein freiheitlicher Staat werden. Die Demokratie wirkt auf den Zarismus, wie das Kruzifix auf den Teufel. Das feudale, kapitalistische Deutschland mag vor einem slawischen Ansturm zittern. Das freie Deutschland hat keine Ursache zur Furcht. Mag der Zarismus seine Hunnenherden über Europa hetzen. – Sie sollen sich an unserer überlegenen demokratischen Kultur die Schädel einrennen, wie vor tausend Jahren an den festen Städten Niedersachsens.

Das freie Volk. 4. Juli 1914


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