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Kleiner Literaturkalender

Josef Nadler: Die Berliner Romantik.
1800–1814. Verlag Erich Reiß (Berlin).

Die romantische Strömung, die im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in der deutschen Literatur sich geltend machte, sie für Jahrzehnte beherrschte und deren Ausstrahlungen heute noch fühlbar sind, ist eines der interessantesten Phänomene der Weltliteratur. Wie diese Bewegung entstand, ist in Anknüpfung an die berühmten Namen Schlegel, Arnim, Brentano, Kleist oft geschildert worden, wann sie entstand, das versucht der Literarhistoriker

Josef Nadler von der Universität Freiburg (Schweiz) in dem vorliegenden Buche darzustellen, indem er sich einer Methode bedient, die die offizielle Wissenschaft bisher verpönt hat. Er geht davon aus, daß die Romantik in den deutschen Landesteilen östlich der Elbe ihre höchste Entwickelung erfuhr und daß besonders das Berlin Arnims, Kleists und Fichtes in dieser Phase eine überragende Rolle spielte, wie überhaupt die Führer der romantischen Schule fast durchweg der Geburt nach dem östlichen, ehemals slawischen Deutschland angehörten. Nadler gelangt nun zu einer These, die, ganz gedrängt wiedergegeben, etwa das Folgende besagt: das ganze Deutschland östlich der Elbe ist Siedlungsland, von Kriegern und Kolonisatoren in jahrhundertelangem Kampfe der slawischen Bevölkerung abgerungen. Deshalb entwickelte sich auf diesem Boden ein neuer, durchaus nicht rassereiner Menschenschlag, der durch Jahrhunderte geistig mit dem Mutterland nur durch sehr dünne Fäden verknüpft war. Aber als dieses Volk allmählich zu eigenem Kulturbewußtsein erstarkte, da warf es die Blicke zurück und suchte von neuem jene Geisteselemente des Mutterlandes lebendig zu machen, die es bei seinem Auszuge begleitet hatten. Daher jene die ganze Romantik durchziehende Sehnsucht nach der Wiederherstellung deutschen Mittelalters, jene Freude an der Ausgrabung verschütteter Schätze der Kunst und der Poesie. Mit dieser These wird ganz von selbst dem Verfasser die deutsche Romantik aus einer rein artistischen Angelegenheit, so wurde und wird sie noch oft eingeschätzt, zu einem großartigen Versuch einer deutschen Renaissance. Es fehlt hier der Raum zu einer Auseinandersetzung mit dem Autor. Selbst wenn manches etwas konstruiert erscheint, muß doch der objektiv Prüfende zugeben, daß in dieser Methode neue und fruchtbare Möglichkeiten liegen und daß Nadler für seine Wissenschaft vielleicht leisten könnte, was für die jüngste Kunstwissenschaft Worringer geleistet hat. Bemerkt sei noch, daß das Buch in einer Sprache von nicht alltäglicher Plastik geschrieben ist und eine Reihe von vorzüglich erfaßten und durchgearbeiteten Charakteristiken enthält und bei weitem nicht so theoretisch ist, wie es nach diesem knappen Referat vielleicht den Anschein hat.

Berliner Volks-Zeitung, 22. Mai 1921


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