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Das werdende Deutschland
Ein Wort an alle Schwachmütigen

Der große Krieg ist nicht die einzige Katastrophe, die im vergangenen Jahrtausend die mitteleuropäische Gesittung in ihren Grundbedingungen erschüttert hat. Wir denken an zwei Ereignisse, die an sich durchaus verschiedenartig, doch mit gleicher eruptiver Kraft auftraten und riesenhafte kulturelle Trümmerfelder hinterließen. Das waren der Schwarze Tod, die große Pest von 1348 und der Dreißigjährige Krieg.

Als das große Sterben längst vorüber war, da schrieb, rückblickend auf die grause Zeit, ein guter Chronikenschreiber: da die Not vorüber gewesen, habe die Welt wieder angefangen, fröhlich zu sein.

Nach dem Dreißigjährigen Kriege aber seufzte ein Künstler: es sei gar traurig bestellt um das arme Deutschland: Gewerbe und Künste lägen danieder, und wer etwas könne, ziehe nach Flandern oder Welschland, denn in der Heimat müsse er verhungern.

Auf den Schwarzen Tod folgte das große Blühen der Renaissance, ein langer heller Tag.

Auf den Krieg der dreißig Jahre aber Verfall, Zerrüttung, unendliche Nacht. Unheimlich zeitgemäß sind für uns die Worte des guten Chronisten und des armen Künstlers. Denn auch wir stehen am Ende einer Entwicklung. In unsern Händen liegt das neue Werden.

Was für ein Urteil wird dereinst der Geschichtsschreiber unserer Zeit über unsere Entscheidung fällen?

*

Das arme Deutschland! Das ärmste Land unter der Sonne. Jeder äußeren Macht beraubt, Armee und Wirtschaft in Auflösung, der Westen besetzt von übermütigen Siegern, der Osten Tummelplatz kleiner Nachbarn. Das ärmste Land. Und doch das reichste Land. Das reichste an Hoffnungen und günstigen Möglichkeiten. Erbarmungslos ist mit allem Antiquierten aufgeräumt. Geheime Energien sind plötzlich ans Licht getreten und nutzbar gemacht. Freie Bahn für alles Tüchtige, ein Wort, das in den Schranken der alten Gesellschaft nicht mehr war als ein ganz nettes Ornament, ist nun mehr als ein Wort, ist zum tieferen Sinne der Zeit überhaupt geworden.

So paradox es klingen mag, fast möchte man die Sieger bemitleiden. Sie werden wenig Freude erleben an ihrem Triumph. Ihre Wirtschaft ist kapitalistisch und imperialistisch, und doch strebt die Weltwirtschaft nach neuen Formen. Überall straffen sich Ideen zu Handlung. Wir haben noch nicht den Sozialismus, aber wir treten in ein Zeitalter des Nachkapitalismus ein. Krisen werden sich einstellen. Die Psyche der Völker wird von scheinbar verborgenen Mächten beeinflußt und beunruhigt werden. Enttäuschung und Depression, das werden die einzigen Früchte der siegreichen Völker sein.

Der frühere deutsche Vizekanzler sprach einmal das Wort aus von den Bleigewichten, die unsere besiegten Gegner noch jahrzehntelang mit sich schleppen würden. Das ist zwar ein Ausdruck jener Leichtfertigkeit, die unsere gestürzten Machthaber kennzeichnet, wird sich aber doch bewahrheiten. Wenn auch in einem ganz andern Sinne. Noch lange werden wir das Rasseln der Ketten hören, die den Siegern die Gelenke blutig drücken.

Aber augenblicklich scheint in Deutschland nur das Chaos zu sein. Der deutsche Mensch, seit Anbeginn seiner Geschichte ein Unsteter, ein wenig Faust, ein wenig Ahasver, auch ein wenig ungläubiger Thomas, ist nun zum Berserker geworden – er pocht nicht mehr an die Pforten, er sprengt die Riegel. Der Geist des römischen Sklavenführers scheint über Nacht in ihn gefahren zu sein.

*

Deutschland hat bis zum Jahre 1848 nur eine einzige alle Volksschichten erfassende Revolution gehabt: den großen Bauernkrieg. Und diese Bewegung wird in einem gründlich theologischen Zeitalter so stark von messianischen Hoffnungen durchsetzt, daß für den rückschauenden Betrachter das Religiöse das Soziale verschleiert. Keinen Bastillensturm kennt die deutsche Geschichte; kein Cromwell kein Mirabeau steht im deutschen Pantheon. Nur so ist es denkbar, daß man in ratloser Verblüffung die neuen Typen bestaunt, die in den letzten Monaten zur Erscheinung gekommen sind.

Handlung ist das Wesen der Revolution. Spontane Handlung, die unmittelbar zum Ziele führt, im Guten wie im Verhängnisvollen; aber immer herausgewachsen aus der Situation. Es ist kein Wunder, daß der Deutsche, gewöhnt an die zähe Materie des Obrigkeitsstaates mit seinem Mangel an Öffentlichkeit, die wilde Bewegung, die scheinbar ganz unversehens die Massen ergriffen hat, etwa mit ähnlichen Gefühlen betrachtet wie der biedere Prior von Parma die Malereien des Correggio, die er in ihrem krausen Durcheinander von Köpfen, Gliedern und Leibern sehr geistvoll mit einem Froschragout verglich. Und doch sind für den, dessen Denkorgane wirklich von dieser lebenden Zeit gespeist werden, die neuen Typen nichts so durchaus Erstaunliches: – er hat sie werden und wachsen sehen! Denn das revolutionäre Deutschland war da, schon lange vor dem Kriege, der nur den Impetus für den gewaltsamen Umsturz hergeben mußte. Alles, was seit Jahren gearbeitet wurde für eine bessere Fundamentierung der Gesellschaft einerlei, ob es von politischen Parteien ausging oder von Vereinigungen mit rein kulturellen Zielen –, alles was geschah, mußte sich gegen die Grundidee dieser Gesellschaft richten und mußte von ihr und ihren Sachwaltern mit feindlichen Blicken betrachtet werden. Aber diese Arbeit, der doch im einzelnen so unterschiedliche Motive zugrunde lagen, hat eine ganz veränderte Atmosphäre geschaffen, in der Menschen sich bildeten, den andern im Äußerlichen gleich, aber in ihrer Geistesverfassung so grundverschieden wie das Werdende und das Absterbende, wie alte Zeit und neue Zeit.

Und dann kam der Augenblick, wo alle Ideen und Energien zusammenströmen und Aktion werden mußten. Ist es ein Wunder, daß sich da kein einheitliches Bild ergeben wollte, daß zunächst Chaos eintreten mußte? Wir erleben eine weltgeschichtliche Wende – matte Hirne, schwache Herzen mögen es verwünschen, Genosse dieser Epoche sein zu müssen –, aber wer nur ein wenig Gefühl und Augenmaß hat für das gewaltige heroische Schauspiel, das die sich immer wieder verjüngende und erneuernde Kraft der Menschheit darbietet, der wird nicht murrend und maulend abseits stehen können. Der wird sich auf den Boden des Tatsächlichen stellen und das ist: daß eine Welt zusammengebrochen ist und neu errichtet werden muß. Zusammengebrochen ist nicht nur ein Staat, der sich unbesiegbar wähnte, zusammengebrochen ist nicht nur eine Wirtschaftsordnung, die von ihren Nutznießern für bombensicher gehalten wurde, zusammengebrochen ist vor allem der bürgerlich-kapitalistische Geist, der seit 100 Jahren die Köpfe beherrschte und auch große Teile der sozialistischen Arbeiterschaft weit mehr im Banne hatte, als sie es gern wahrhaben möchte. Nun aber gilt es, den neuen Geist zu schaffen, den Geist, der vielleicht für lange, lange Zeit der herrschende sein wird. Solch eine Verantwortung ruht auf uns Lebenden.

Und doch gibt es genug Menschen, die nichts besseres zu tun haben, als sinkende Konjunkturen zu bejammern, oder zu beklagen, daß sich die Revolution nicht abwickle wie eine Parade. Das »sanftlebende Fleisch zu Wittenberg« – das böse Hohnwort, das Thomas Münzer dem eifrigst bremsenden Luther an den schwarzen Talar heftete – ist wieder auferstanden und zum Symbol vieler, sehr vieler geworden. Es muß ausgesprochen werden gegenüber den allzu Besorgten, den Behutsamen, den wohlmeinend Gemütvollen, daß uns nichts mehr an die Tradition bindet, daß es zwecklos ist, Halbheiten durchzumogeln, daß endlich jene geistige Erneuerung durchgeführt werden muß, die der deutsche Michel jahrhundertelang versäumt hat. In der Gegenwart leben und ihren Problemen fest in die Augen sehen, das ist die einzige Tugend, die einzige revolutionäre Tugend, die wir brauchen können. Kein Kompromisseln; wir sehen ja mit Schaudern, wohin uns die »Realpolitiker« mit ihrer ach so wunderbar praktischen Politik, die immer nur das kleine »Mögliche« im Auge hatten und die große Gesinnungslumperei im hohlen Schädel, geführt haben. Nein, lieber dem irrenden Faust auf dem Blocksberge gleich, umbraust vom höllischen Chaos des Hexensabbaths, taumelnd zwischen Reue und Verlangen; lieber dem irrenden Ritter gleich, zwischen Tod und Teufel allein in grauser Wildnis, als paktieren mit jener netten spießerlichen Adrettheit der Gedanken und Gefühle, jener pomadigen Korrektheit, jener platten und matten Zielbewußtheit, die immer nur das Nächste sieht, aber niemals das Wesen erfaßt.

So sei der Mensch dieser Zeit, der Mensch, der das Haus baut, in dem die nächsten Generationen wohnen sollen.

Nun hat dieser Mensch bereits eine Überspannung erfahren; dem Revolutionär folgt als Affe der Revolutionshysteriker auf dem Fuße. Wir kennen ihn. Immer verrannt in leere Formeln, niemals Tiefe, immer Oberfläche, immer berauscht an Worten. Sein Revier ist die Straße; er braucht Öffentlichkeit, Publikum; er schwimmt in Sensationen; er muß sich in Szene setzen. Er harangiert vom Laternenpfahl aus ein paar Passanten, die eilig vorüberstreben, denn sie haben an anderes zu denken, und er ist sich doch bewußt, in diesem Augenblick Weltgeschichte gemacht zu haben; denn er rechnet nur mit Ewigkeitsmaßen. Dabei ist er oft genug ein ehrlicher Kerl, den es entsetzen würde, könnte er sehen, was für Instinkte er erweckt.

Wir brauchen Diener am Geiste, nicht am Worte. Wir brauchen Menschen, die sich autonom fühlen und sich doch bewußt sind, Glieder einer großen Kette zu sein. Der Revolutionär ringt mit seinem Popanz.

Und neben diesem großen Kessel, in dem es brodelt und nach Form ringt, da wandelt noch immer einer, den man nicht übersehen darf, so nichtig er ist – Herr Durchschnittsmensch. Er geht mit süßsaurem Lächeln einher und wundert sich im Grunde seines Herzens, daß er noch nicht umgebracht ist; aber er läßt es sich nicht merken. Das Ganze ist für ihn ein bedauerliches Intermezzo, das hoffentlich bald zu Ende sein wird, denn stille Ahnung sagt ihm, daß er der wahre Sieger ist. Denn sein Typ ist in der Tat unsterblich. Er hat alle Erschütterungen der Weltgeschichte überlebt, ist immer Gaffender gewesen, niemals Erlebender, immer Zeuge, niemals Blutzeuge. Er hat während des Bastillensturmes im Keller gehockt und kam erst hervor, als er sah, daß es ihm nicht an den Kragen ging. Er hat nacheinander König, Königin, Girondisten und Jakobiner zum Guillotinenplatz begleitet, öffentlich die Carmagnole gesungen und heimlich Getreide geschoben. Er hat sich bei Marats Tode im stillen Kämmerlein ins Fäustchen gelacht und hat Bonapartes Staatsstreich auf offenem Markte zugejubelt. Mit guter Gesundheit und gefüllten Taschen ist er übers Directoire ins Empire gekommen. Ob er noch lebt? Geht nur ins Wirtshaus, ihr werdet ihn die grause Zeit verfluchen und das ewig Gestrige preisen hören. Oder seht ihn in der Trambahn, wie er mit der Miene des Mannes, der die Welt nicht mehr versteht, die Zeitung in die Tasche schiebt. Ob er auch diesmal der Lachende bleibt? Das hängt davon ab, wer die Oberhand behält: der Revolutionär oder der Revolutionshysteriker. Der Typus, der am schärfsten den Sinn der Revolution erfaßt und neue Ordnung gestaltet oder derjenige, der die Bewegung durch Phantastereien diskreditiert und schließlich in der Gosse enden läßt. Heute ist Herr Durchschnittsmensch dem Revolutionshysteriker bitter gram; er sieht in ihm den bösen Feind. Wäre er nicht gar zu dumm – er würde in ihm den besten Helfer begrüßen.

O traure, traure Deutschland,
Unglücklich Land! zu lange brachgelegen!
Deine Nachbarinnen blühen um dich her voll Früchte,
Wie goldbeladne Hügel um einen Morast,
Wie junge kinderreiche Weiber
Um ihre älteste Schwester,
Die alte Jungfer blieb.

Lenz

Das arme Deutschland! Diesmal ist es nicht wie in versunkenen Jahrhunderten an seiner Bescheidenheit verkümmert, es ist zugrunde gegangen wie ein Parvenü, der zu hoch spekuliert hat und über Nacht Bettler wird. Es ist zugrunde gegangen an der Überspannung des Machtgedankens, an dem blinden Vertrauen, daß Gewalt und blankes Eisen allein maßgeblich seien und Recht und Wahrheit läppische Phrasen, bestenfalls gut genug. Dumme damit einzuseifen. Wir müssen den plumpen Glauben an die Macht niederringen. Wir müssen der Macht vertrauen lernen, die im Geiste wurzelt, die die Tochter der Gerechtigkeit ist. Was zusammengebrochen ist, war schlecht fundiert, war nicht Wahrheit, sondern Kulisse.

Wir hatten eine wunderbar entwickelte Technik, eine aller irdischen Gebundenheit spottende Wissenschaft.

Wissenschaft und Technik aber – es ist das nicht allein unsere Schuld, wir folgten einer schlimmen internationalen Tendenz waren nicht in erster Linie da, zu helfen. Sie schufen Werkzeuge der Vernichtung, Werkzeuge gräßlichsten Mordens.

Wir müssen die Wissenschaft wieder menschlich machen. Wir Monisten auch, die wir die wissenschaftliche Weltanschauung auf unser Banner geschrieben haben, müssen dabei helfen. Auch wir haben in manchem gesündigt; haben allzu sehr das kalte Fachwissen des Naturwissenschaftlers verwechselt mit dem allgemeinen Wissen vom Leben, haben oft vergessen, daß neben den Instrumenten des Forschers auch die suchende Seele ihr ewiges Recht hat. Wir könnten sehr viel Wärme in die Welt bringen.

Heute ist Deutschland so sehr gedemütigt, daß ein anderer besserer Zustand beinahe wie eine Utopie erscheint. Deutschland, du darfst nicht mit Trauern in jüngste Vergangenheit blicken und einem Zustande schmerzlich nachwinken, der nichts war als gleißende und geschminkte Lüge. Stehst du auch heute im Reigen der Völker einsam und von allen verhöhnt, fast wie die Gattin Armins im Triumphzuge des römischen Siegers, glaube, daß du dich selbst erlösen kannst. Blicke nicht zurück. Die Gegenwart ist dein Kampffeld. Du brauchst nicht mit jämmerlich bußfertiger Miene einherzulaufen; nicht Beten lehre dich die Not, sondern Denken und Handeln. Nicht trübe Gäste auf der dunklen Erde dürfen wir sein, sondern Goethes Stirb und Werde wollen wir als freudiges Losungswort aufnehmen.

Die große Not schafft große Abwehr. Die leidende, die mißhandelte und geknebelte Germania ist noch immer die Mutter der besten Generation gewesen!

Monatliche Mitteilungen des Deutschen Monistenbundes,
Ortsgruppe Hamburg, 1. Februar 1919


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