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Der Anstand am Pranger

In der »Liller Kriegszeitung« vom 19. August ist unter der Überschrift »Heirat mit einer Französin« zu lesen:

»Dem Gefreiten T. war im Briefkasten der Nummer 1 auf seine Frage, wie er's anstellen sollte, jetzt mit einer Französin kriegsgetraut zu werden, die Antwort erteilt worden: ›Daheim warten Millionen deutsche Mädels auf die Heimkehr ihrer Feldgrauen – und da wollen Sie mit so einer einrücken?‹

Aus der Leserschar der ›Liller‹ sind nun dem Gefreiten T. und seiner Braut zwei Verteidiger erstanden. Sie geben in ihren Zuschriften an den Briefkasten der Liller Kriegszeitung nicht an, ob sie Mitglieder des ›Vereins zur Schonung unserer Feinde‹ sind. Wahrscheinlich stecken sie aber in ähnlichen Klemmen wie der Gefreite T.: Sie haben wohl ihr Herz für eine Einwohnerin des besetzten Gebiets sprechen lassen und glauben, als ›anständiger Kerl‹ an dem Mädchen handeln zu sollen.

Alle, die klar und nüchtern urteilen können, werden die betreffende Lillerin zwar bedauern – aber sie trotzdem für eine Verräterin ihres Vaterlandes halten. Oder würden wir nicht auch eine Mainzerin oder Freiburgerin, falls der Feind in unserm Lande stände, aufs schwerste verurteilen, wenn sie sich einem Angehörigen des siegreichen feindlichen Heeres (mit oder ohne Ehering) hingeben wollte?«

Es hat keinen Zweck, sich mit dieser Geistesverfassung prinzipiell auseinanderzusetzen. Vom Ideal der Humanität lassen sich keine Brücken schlagen zu den zahlreichen mehr oder minder klobigen Erscheinungsformen des Nationalismus. Aber eines sei doch festgenagelt:

Als der Gefreite T. die Frage stellte, bekundete er Vertrauen zu dem Blatte, das doch gern eine Freundin des Soldaten sein möchte. Und Vertrauen entgilt man nicht mit einer Antwort, die wie ein Schlag ins Gesicht wirken muß: »– und da wollen Sie mit so einer einrücken?« Denn kein Mann, der nicht gerade Fischblut in den Adern hat – einerlei, ob er »in der Klemme steckt« oder nicht wird eine solche Bezeichnung des Weibes, das er liebt, anders auffassen. Diese Antwort der »L.K.« zeugt, selbst wenn man den sattsam bekannten Tiefstand der journalistischen Ausdrucksweise dieser Zeit mildernd in Betracht zieht, von einer traurigen Gefühlsroheit.

»Sie haben wohl ihr Herz für eine Einwohnerin des besetzten Gebiets sprechen lassen und glauben, als ›anständiger Kerl‹ an dem Mädchen handeln zu sollen.« Nein, und tausendmal nein! Der Anstand solcher Männer verdient nicht, mit höhnischen Anführungsstrichen gebrandmarkt zu werden. Solche Männer sind anständige Kerle. Und Charaktere dazu. Für wen der Anstand ein bloßes Decorum für die Welt ist, der würde sich im gleichen Falle sehr einfach seitwärts in die Büsche schlagen und ohne Bedenken ein zertretenes Herz am Wege liegen lassen.

Unendlich viel äußere und innere Hemmnisse stehen einer Eheschließung mit einer Einwohnerin des besetzten Gebietes entgegen: vermutlich lassen die Gesetze es überhaupt nicht zu. Wer da glaubt, trotzalledem der Stimme seines Gefühls und Gewissens folgen zu müssen – Hut ab vor dem Manne! Ihm ist ein ganz ansehnlicher Fonds guten, wahrhaft sittlichen Menschentums zu eigen: »Rechtwinkligkeit an Leib und Seele«, würde Nietzsche sagen. Aber das ist eben der Fluch unserer Tage, daß jede freundlichere Regung, daß alles, was nicht ins Schema passen will, als verbrecherisch oder lächerlich hingestellt werden muß. Es fehlt die Fähigkeit, sich in ein anderes Seelenleben hineinzudenken.

Erfreulich an dieser trüben Affäre ist nur, daß dem Gefreiten T. zwei Verteidiger erstanden sind. Daß der Liller Papierkrieger, der den Briefkasten betreut, überhaupt nicht imstande ist, darauf sachlich einzugehen, sondern den beiden ohne Besinnen »ähnliche Klemmen« zuschiebt und außerdem ihre vaterländische Gesinnung verdächtigt, ist bei seinem gering entwickelten Sinn für Motive nicht weiter verwunderlich.

Die Neue Generation. Dezember 1918


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