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Die Blitzableiter von Notre Dame

Die Türme der altehrwürdigen Kathedrale von Paris, die schon auf so manches herabgesehen haben, worüber Türme sich nicht wundern, sind in der Karnevalsnacht Opfer eines seltsamen Attentats geworden.

Jene Wendeltreppe, auf der einst Viktor Hugos romantischer Glöckner Quasimodo von der schönen Zigeunerin Esmeralda träumte, ist von ein paar Spitzbuben mißbraucht worden, um auf den Südturm zu gelangen und die dort angebrachten Blitzableiter in eigensüchtiger Absicht zu entfernen. Nachher verschwanden die Herren mit Ruhe im Pariser Karneval.

Rabelais erzählt, wie einst der junge Riese Gargantua, von den gewichtigen Glocken der Kathedrale entzückt, diese einfach abhakte und seinem Reittier als Schellen um den Hals hing. Die Spitzbuben waren keine Giganten, sondern Menschen wie wir. Sie mußten sich also auf transportable Gegenstände beschränken. Man billigt ihnen aber gern zu, daß sie in ihren Grenzen das denkbar Schwierigste geleistet haben.

Gegen den Riesen wurde, wie Rabelais berichtet, der Rektor der Universität mobil gemacht, dessen gelehrten Darlegungen es endlich gelang, die Glocken ihrer eigentlichen Bestimmung zurückzugeben. In unseren nüchternen Zeiten wird nicht mehr der Rektor der Sorbonne in Bewegung gesetzt werden, sondern die Kriminalpolizei. Denn die gelehrten Herren werden augenblicklich damit beschäftigt sein, nach den juristischen, philosophischen, moralischen und theologischen Unterlagen der Sanktionen zu forschen, auf daß Europa die Sanktionen sanktioniere ...

Gewiß, es ist eine ungereimte Idee, mit sehr viel Mühe und Lebensgefahr die nicht besonders hoch im Preise stehenden Kupferstangen vom Turme zu holen. Aber ist dieser Vorgang wirklich so einzig dastehend? Seit Jahr und Tag haben die Lenker der Völker Europas nichts anderes getan, als höchst nützliche Blitzableiter von ihrem Platz zu entfernen und die Staatsgebäude schutzlos dem zürnenden Wettergotte preiszugeben. Nur daß sie diese Arbeit nicht selbst besorgen, sondern anderen freundlichst anheim geben, sich für sie das Genick zu brechen.

Vielleicht waren die Herren, die sich in der Karnevalsnacht betätigten, einfach sensationsgierig, legten weniger Wert auf Gewinn als auf einen originellen Coup. Original, fahr' hin in dieser Pracht! Dergleichen liegt in der Zeit. Man hat heute eine Animosität gegen alles, was geeignet ist, Unheil abzuwenden.

Berliner Volks-Zeitung, 10. März 1921


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