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Die Verfassungsfeier in der Oper
Die Rede des Reichskanzlers Dr. Wirth

In der Wilhelmstraße unwahrscheinlich viel Schwarzrotgold. Die Logen der Staatsoper mit Blumen geschmückt. Ein Hauch von Frische in dem feierlichen Hause ...

Im Parkett, im ersten Rang, in den Logen Politiker von Klang und Namen: eine friedliche Heerschau der Republik. Man sieht Dr. Rosen, Schiffer, Groener, Hermann Müller und viele andere. Der Reichspräsident erscheint in seiner Loge zwischen dem Reichskanzler und dem Handelsminister Fischbeck.

Der Vorhang hebt sich. Von einem gewaltigen Reichsadler überschattet: die meisterhaften Spielleute der Staatsoper. Leo Blech gibt das Zeichen, und die »Freischütz«-Ouvertüre rauscht vorüber. Wie die letzten Akkorde der schönsten deutschen Frühlingsballade verklungen sind, senkt sich ein Vorhang hinter dem ersten Dirigenten der Staatsoper.

Dann tritt der erste Dirigent der deutschen Politik ans Rednerpult.

*

Der Reichskanzler ist ein Mann der guten Nerven. Nichts verrät an ihm das Hangen und Bangen der letzten Tage. Seine Stimme ist fest.

Er erinnert an den Ernst der Stunde. Er betont, daß es nicht die Zeit sei zu großen Freudekundgebungen, wo heute in Paris um Deutschlands Schicksal gewürfelt werde. Aber wir seien uns Rechenschaft schuldig über unsere Einstellung zu dem Weimarer Werk.

Der Reichskanzler erinnert an die tragische Situation, in der die Nationalversammlung zusammentrat. Der Krieg war verloren, staatliche Autorität verschwunden. Da stemmte sich dem Chaos der gemeinsame Wille der Bürger und Arbeiter entgegen, ungeachtet aller verschieden gearteten Interessen. So entstand die Weimarer Verfassung auf der Grundlage des Volkswillens, und sie wird Bestand haben, so lange ihre Prinzipien den natürlichen Voraussetzungen entsprechen. Ihre Gedanken haben trotz aller Opposition ihre Anziehungskraft bewiesen. Nordschleswig und Oberschlesien haben für Deutschland votiert und sich damit zu dessen Verfassungsprinzipien bekannt. Die Verfassung ist das Dokument unseres Willens zum Leben. Ihre großen demokratischen Leitgedanken müssen zu unserm Ziel führen: der Rettung Deutschlands, der Wahrung der nationalen Einheit, der Wiederherstellung seiner materiellen Wohlfahrt.

Dann spricht der Reichskanzler die Hoffnung aus, die heute in Paris versammelten Männer möchten sich der Verantwortung gegenüber Europa bewußt sein. Das deutsche Volk habe die Erfüllung schwerster Lasten auf sich genommen, aber man müsse ihm auch die Möglichkeit geben, seinen guten Willen zu betätigen. Wehe denen, die diesem Volk Steine reichen! Wie die Entscheidung in Paris auch ausfallen möge, das deutsche Volk werde getreu den Eingangsworten seiner Verfassung für Freiheit und Gerechtigkeit im eigenen Hause wie in der Welt einstehen.

*

Einmal, als Herr Dr. Wirth die Mitwirkung der organisierten Arbeiterschaft rühmt, ertönt lebhaftes Bravo. Respektvoller Applaus begleitet seine Schlußworte.

Dann bringt Leo Blech den letzten Satz von Beethovens fünfter Symphonie zum Vortrag.

Langsam leert sich das Haus. Erinnerungen schweifen zurück an andere Feste, die einst an dieser Stelle gefeiert wurden mit klirrenden Worten und wehenden Helmbüschen und glitzernden Kotillonorden.

Wir wollen in die Zukunft blicken ...

Berliner Volks-Zeitung, 11. August 1921


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