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Europas Leidensweg

Mit vollem Recht wandte sich die »Freiheit« vor einigen Tagen gegen die beliebte Methode der Reventlow und Helfferich, in der Gegnerschaft zwischen Deutschland und England eine Wiederkehr der alten Rivalen Rom und Karthago zu sehen. Der Vergleich hinkt, wie Herrn Helfferichs gesamte Rhetorik, wenn man sie aus dem Bereich der billigen Oppositionsmacherei holt und auf den Boden der Wirklichkeit stellt. Wenn irgendein historischer Vergleich auf den gegenwärtigen europäischen Zustand zutrifft, so der mit dem großen Peloponnesischen Krieg, der die Hegemonie der Hellenen in der Sphäre der antiken Mittelmeerstaaten rettungslos vernichtete. Diesen Vergleich hat im Jahre 1917 schon Gleichen-Rußwurm angestellt, indem er sehr treffend darlegte, daß der Weltkrieg, in dem die Nationen sich äußerlich so geschlossen gegenüberstanden, doch letzten Endes nicht mehr wäre, als der Krieg der Bürger Europas gegeneinander. Hier hat Gleichen-Rußwurm einen Gedanken ausgesprochen, der vor dem Krieg sich trotz aller Anfechtungen bereits in allen Staaten, die bald darauf in den Vernichtungskrieg traten, einzubürgern begann: die Idee des europäischen Kulturkreises. Es ging ein tiefer und unseliger Zwiespalt durch die damalige Welt: immer stärker machten die gemeinsamen übernationalen Interessen sich geltend, immer gleichartiger wurde das kulturelle, das zivilisatorische Bild. Aber das wurde hingenommen wie etwas Selbstverständliches, verwurzelt fühlte man sich noch immer im alten Nationalstaat, im Merkantilstaate Colberts, dessen Ziel es war, einseitig den eigenen Reichtum zu mehren und das Wachstum und Gedeihen des Nachbarn hämisch und scheel zu verfolgen. Es war ein Zwiespalt zwischen Zivilisation und Denkweise. Auf der einen Seite die Erfordernisse einer modernen Wirtschaft, die ganz zwangsläufig die Grenzen sprengten und aus einem Bündel von Staaten eine durch ökonomische Bande zusammengehaltene Familie machten, und auf der anderen Seite eine Raubrittermentalität ohne Sinn für höhere Einheit, einzig konzentriert auf das Interesse der stolzbewimpelten nationalen Klitsche. Und dann kam der Krieg, und ein jeder schlug blindwütig auf seine besten Kunden los. Und so gründlich, daß in hundert Jahren noch die Folgen zu spüren sein werden.

Der Krieg war eine ungeheuerliche vielaktige Tragödie. Der Friede ist eine in Permanenz erklärte Tragikomödie, die feierlich mit Brief und Siegel ausgestattete Verrücktheit. Der Tanz geht weiter. Die schwerkalibrige Vernichtungsarbeit besorgen nicht mehr die Mörser von Essen und Creuzot, sondern die Paragraphen der Friedensverträge. Wieder kämpft Europa gegen Europa. Wie vor dem Krieg kleinlichster Egoismus die Einschränkung der Rüstungen verhinderte, die Möglichkeit zu einem halbwegs vernünftigen Übereinkommen, so verhindert der gleiche Egoismus, heute gigantisch gewachsen, das große Werk des gemeinsamen Wiederaufbaus und scheidet peinlichst in Sieger und Besiegte. Und doch trägt überall das nationale Antlitz verwandte kulturelle Züge, sind die wirtschaftlichen Probleme überall gleich schwierig, schleppen sich überall Menschen mit zerschossenen Leibern durch die Straßen, weinen überall verhärmte Frauen. Es haben viele Nationen miteinander gekämpft, aber geflossen ist nur einerlei Blut: das Blut der Bürger Europas.

Europa, dafür haben wir jahrelang gelitten. Europa, darauf haben wir gehofft. Und für das kommende Europa wollen wir trotzdem weiter vor die Schranken treten. Für dieses seltsame, unruhige Geschlecht, für die feindlichen Söhne einer Mutter, für die späten Enkel jener Phönizierin, die der Herr der Götter einst in Gestalt des Stieres durch das blaue Griechenmeer entführte.

Als vor sieben Jahren die Sonne rot aufging, starrte die Welt in Waffen. An den Mauern klebten die Proklamationen, und davor drängten sich die Menschen in dichten Massen, und viele trugen den Kopf höher, und viele Herzen belebte ein großer und schöner Elan. Wer will die Begeisterung verkennen, die damals Alltagsmenschen über das gewohnte Maß hinauserhob und zum heroischen Opfer fähig machte! Die Begeisterung hat uns getragen, wir können und wollen es nicht leugnen –, aber sie hat uns nicht lange getragen. Während Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen auf die Wahlstatt eilten, um das Höchste zu geben, was der Mensch zu geben hat: da feierte schäbigste Gewinnsucht hinter ihnen Orgien und bereitete jenen gewaltigen Sumpf, in dem der Krieg später qualvoll ersticken sollte. Die Völker Europas waren nicht mehr fähig, Krieg zu führen, dieses Mittel, um alle Rivalitäten zum endgültigen Austrag zu bringen, war ein verfehltes. Keine Lösung der Streitfragen ist erfolgt, hinzugekommen sind nur klaffende Wunden des Leibes und der Seele und ein namenloser Ekel. Noch immer streiten die Nationen gegeneinander, aber so drohend auch die Kampfrufe sind, so laut sie gellen mögen – – es ist eine Prügelei unter Invaliden. Dem einen fehlen die Beine, um zu laufen, dem anderen die Arme, um zuzuschlagen. Aber gemeinsam ist allen das fieberhaft erregte Hirn, das Tag für Tag Phantasmagorien gebiert, und in dem in wüsten Träumen der Nacht die Ereignisse der letzten Jahre in grotesker Verkrampfung wiederkehren. Was diesen allen fehlt, ob es um den die Geschicke lenkenden Staatsmann geht oder um den kleinsten Kärrner, das ist der Arzt der Seele, der diesen müden und in der Müdigkeit erregten Hirnen das erlösende Wort bringt. Wir wissen nicht, wann es sein wird, aber wir wissen, daß es sein wird. Wir wissen, daß Europas Geschlecht, das viel Leid über die Erde gebracht hat, aber viel Großes und Stolzes, doch einmal sich selbst erkennen und damit den Weg betreten wird, der in eine hellere Zukunft führt. »Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter«, rief einst ein Mann, der außer dem Talent, bombastische Phrasen auszusinnen, keine weitere Begabung besaß. Völker Europas, findet euch selbst! Das ist die Losung von heute.

Berliner Volks-Zeitung. 31. Juli 1921


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