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Am Rande der Zeit
Eine ernsthafte Betrachtung

Jede Geschichtsperiode voll großer Krisen findet ihre eigenen Lösungs- und Abwehrversuche. Nur daß manchmal die Abwehr schlimmer ist als die Krise. »Die Zeit ist aus den Fugen!« rufen mit Hamlet unendlich viele, die im Leben nicht mehr sehen als den ungestörten Ablauf einer wohlassortierten Quantität von Normen. Und wenn Hamlets schmerzvoller Aufschrei doch in jenes Gefühl ausmündet, daß es sein Amt sei, wenn auch mit Schmerzen, die Norm wieder zurückzuführen, so ist die Radikalität unserer Zeitgenossen doch weit stärker: sie sehen nicht nur die moralische Welt zusammenkrachen, sondern auch unseren Planeten, der ganz gewiß seinen Kollegen im Weltenraum niemals besondere Freude bereitet hat, durch irgendeine kosmische Katastrophe aus dem Ringeltanz der Gestirne ausgetilgt werden.

Weltuntergang. Weltuntergang ist letzter Schick. Mit Herrn Spengler, der allerdings mit jenem schönen Maßhalten, das den Professor ziert, nur dem Abendlande eine Galgenfrist in Aussicht stellte, gleichsam eine Abwicklungszeit, nahm das Unglück seinen Anfang. Wenn die hohe Wissenschaft sich also Zwang auferlegte, so räumte die Talmiwissenschaft, die sich nicht in ernsthaften und umfangreichen Quartbänden auslebt, sondern in kleinen wohlfeilen Broschüren, mit den letzten Hemmungen auf und popularisierte phantasiegeschwängerte Bilder von kommenden Sintfluten, Eiszeiten, Kometenkollisionen und ähnlichen Unglücksfällen großen Maßstabes, gegen die keine interalliierte Kommission etwas auszurichten vermag.

Die Logik solcher Prophezeiungen liegt nicht ganz klar zutage. Zugegeben, daß das Tempo, in dem wir angeblich vernunftbegabten Wirbeltiere uns gegenwärtig über die Erdrinde bewegen, ein etwas anfechtbares ist, warum deshalb tellurische Katastrophen? Die Sonne, die in so gütiger Weise Attila und die von ihm zertretenen Völker erwärmt hat, sie wird auch weiter Licht und Wärme spenden in dieser Zeit, in der sich die Attilas gegenseitig zerstampfen. (Nur daß sie, sehr zu unserm Schaden, häufig danebentreffen. ) Gewiß, der allgemeine Aspekt ist so, daß man ruhig für morgen Schwefel über Gomorrha ansetzen möchte. Aufstieg und Absturz in tollem Durcheinander, Exzesse des Leibes und der Seele, Foxtrott und Sanktionen, Tragik und Klamauk, Lloyd George und Breitensträter, Foch und Flaute, Lenin und Lubitzsch. Der Sinn für Beschaulichkeit ist dahin. Die Sensation regiert und wir alle sind ihre Sklaven. Das alles ist nicht schön. Aber den Kosmos soll es revolutionieren? Nein, Kinder, solche Annahme bedeutet eine unverzeihliche Überschätzung der Menschheit.

Nicht die Welt geht unter, sondern die Zeit, die uns ihr Signum mitgegeben hat. Clio häutet wieder einmal. Wir sind aus dem Gleichmaß geschleudert, wir sehen Kräfte am Werke, die wir nicht verstehen und erleben den Niederschlag in uns und wissen nicht, warum wir verändert sind und irgend etwas uns weitertreibt, von dem wir uns keine Rechenschaft geben können. Die ganze soziale Unterwelt ist in Aufruhr. Wir sind mitten im Wirbel, werden getragen und abgeworfen, werden weitergestoßen und stoßen selber weiter. Jedenfalls, wir sind im Spiel, wir müssen mitmachen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht.

Und doch wäre es weit vergnüglicher, gleich einem morgenländischen Weisen unter einer Dattelpalme zu träumen und weit im Westen das ganze Getümmel verschwinden zu sehen. Wie es immer kleiner und kleiner wird, wie die Menschen zu Pünktchen werden und Ludendorff schließlich nicht mehr von Fern Andra zu unterscheiden ist.

Berliner Volks-Zeitung, 8. Juli 1921


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