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Das französische Rätsel
Das Kabinett Briand

In Frankreich ist es dem gelenkigen Aristide Briand gelungen, ein Kabinett zu bilden, und damit zu einem Ziele zu kommen, das der von der Boulevardpresse allzu voreilig als Staatsmann gefeierte Kammerpräsident Péret kaum in der Ferne aufleuchten sah. Das Kabinett ist da, die Krise bleibt! Sie wird bleiben und Fieber und Unrast in Köpfe und Herzen tragen, bis die führenden Politiker sich von der unheilvollen Vorstellung befreit haben, daß der Versailler Vertrag etwas ist, was Paragraph für Paragraph durchführbar ist. Und bis diejenigen kaltgestellt sind, die, obzwar von der Undurchführbarkeit überzeugt, doch bedenkenlos genug sind, diesen oder jenen Artikel des Unheildokuments als sichtbaren und wirkungsvollen Helmschmuck wehen zu lassen. Wir sind immer nachdrücklich dafür eingetreten, daß der Vertrag erfüllt werden muß, soweit er erfüllbar ist; auch haben wir stets rücksichtslos jene breitmäulige, volksverhetzende Agitation gebrandmarkt, die in Presse und Versammlungssaal sich mit sporenklirrender Phrase über eine Wirklichkeit hinwegsetzt, der nun einmal der Friedensvertrag die Gestalt verliehen hat. Aber mit gleicher Schärfe wenden wir uns gegen jene französischen Politiker, die, nicht weniger phantastisch als unsere brüllenden Reventlöwen mit dem Gummigebiß, vermeinen, es wäre das Problem der Wiedergutmachung ein solches der gepanzerten Faust. Wiedergutmachung kann nicht erfolgen durch ein materiell und ideell isoliertes Volk. Wiedergutmachung kann nur geleistet werden durch ein Volk, dem man Zeit läßt zur Besinnung und zum Atemholen, durch ein Volk, das sich als Glied einer großen Familie fühlt, und nicht als Galeerensträfling.

Vielleicht ist es begrüßenswert, daß Briand, der Tänzelnde, ans Ruder kommt, und Herr Poincaré, der neuerdings aus dem Amoklauf ein dreimal geheiligtes Prinzip macht, sich bis zu einem der nächsten Kabinettsstürze gedulden muß. Die werden nicht auf sich warten lassen, solange man in Paris glaubt, Politik aus dem Ressentiment machen zu müssen. Auch Briand hat sich nicht vorgedrängt, und hätte gern verzichtet; noch ist die Situation nicht reif für den klugen Diplomaten, und für die mittelmäßige, nationalistisch exaltierte Kammer ein mittelmäßiger Routinier alten Schlages mit typischer Politikerlaufbahn gerade gut genug. Aber die erste Ministergarnitur war erschöpft; es half nichts, er mußte in den sauren Apfel beißen. Es wirft ein seltsames Licht auf die gegenwärtige französische Verwirrung, daß diese Kammer von wahrhaft bescheidenem Geisteswuchs Herrn Leygues stürzte, eben weil er kein Führer war und man seiner loyalen und fleißigen Durchschnittlichkeit nicht zuzumuten wagte, in ein Turnier mit den glänzenden Staatsmännern Englands und Italiens zu gehen. Man verlangt also nach einem führenden Kopf, und man verlangt Resultate – aber man ist selbst nicht fähig, eine Marschroute zu geben. Wenn das Ministerium den Ehrgeiz hat, mehr als Eintagsfliege zu sein, wird es ein deutliches Signal geben müssen, wohin die Reise gehen soll. Das ist eine ungeheuerlich schwierige Aufgabe im Tumult der Meinungen und Affekte. Alles ist so unausgegoren, daß jede Zielrichtung Anstoß und wütendste Opposition erregen kann. In kurzer Zeit vielleicht schon wird Aristide Briand mit gelangweilter Geste sein Portefeuille dem Präsidenten der Republik zurückgeben; um den Abschiedsspruch des Königs von Sachsen zu gebrauchen, ist er zu kultiviert.

Ohne Zweifel ist Briand ein Politiker von ungewöhnlichen Fähigkeiten. Dieses Urteil kann nicht beeinträchtigt werden durch seine allzu häufigen Schwenkungen; man macht dergleichen in Paris auch geschmackvoller, als in Berlin. Desto bedenklicher sieht es mit seinen Mitarbeitern aus. Um den einen Kopf gruppieren sich viele Köpfchen und ein dampfbetriebenes Mundwerk: Louis Barthou. Was Briand beginnen soll mit diesem Gemisch von abgestandenen Kapazitäten und frühlingsfarbenen Neulingen, die sich bisher nur in subalternster Wahldemagogie Ruhm geholt haben, das mögen die Götter wissen. Der Chef des Kabinetts weiß es sicherlich nicht. Aber gerade weil diese Situation so abstrus ist, weil Verstand neben Phrasendrescherei hausen muß, deshalb läßt sich nicht erwarten, daß von dem Chaos sich bald feste Formen lösen werden. Als Aktion wäre trotz alledem zu verbuchen, daß Poincaré auf der Strecke geblieben, daß man, vielleicht nur unterbewußt!, ein Grauen empfand vor den Konsequenzen, die sich aus dessen Schilderhebung ergeben müßten. Auch wird man gefühlt haben, daß Rücksicht zu nehmen war auf die Verbündeten, die eine positive Politik ohne Waffengerassel wünschen. Die Entente ist ohnehin heute schon ein recht papierener Begriff; ein Scharfmacher von den Graden Poincarés könnte die Geduld und Nervenkraft eines Lloyd George oder Giolitti vollends erschöpfen. Ohne Zweifel wird Briand sich zunächst aufs Lavieren legen und versuchen, nirgends anzustoßen. Er wird wohl seine zündende Rhetorik zunächst dem Geschmack oder Ungeschmack der nationalistischen Kammer anpassen. Aber nicht die oratorischen Konzessionen dieses Mannes werden ausschlaggebend sein, und ebensowenig seine ersten Taten; bedeutsamer dürfte sein persönlicher Einfluß auf die gesamte politische Atmosphäre werden. Nicht der Briand am Rednerpult, aber der Briand am Verhandlungstisch, der Briand, der in den Couloirs des Palais Bourbon mit den Deputierten plaudert, wird der »eigentliche« sein. –

Wir deutschen Demokraten wünschen ein Frankreich, mit dem wir friedlich zusammenarbeiten können; die deutschen Reaktionäre brauchen ein Frankreich, das uns beständig die Zähne zeig. Jede neue Note fegt wie ein Glutwind über Deutschland hinweg und verschüttet, was die Hände fleißiger Verständigungsfreunde aufgebaut haben. Niemand hat das besser begriffen als die Tafelrunden von Ludendorff und Westarp, und niemand weniger als die offiziellen Pariser Politikmacher. Wer Deutschland liebt, muß die Versöhnung mit Frankreich wollen. Man hat es sich angewöhnt, bei uns, und nicht nur bei uns, von den großen französischen Unbegreiflichkeiten zu sprechen oder von dem »französischen Rätsel«. Bernard Shaw sagt irgendwo, es sei für die Frau selbst das allergrößte Rätsel, daß sie von der ganzen Männerwelt als Rätsel betrachtet werde. Vielleicht trifft auch, auf Frankreich angewandt, dieses witzige Wort ohne Abschwächung zu. Frankreich hat unendlich gelitten; es sieht mit umflortem Blick auf zerstörte Landschaften und auf die Gräber seiner Jungmannen. Es lebt in dem stolzen Gefühl des Sieges und in dem traurigen Bewußtsein des ungeheuren Schadens, dessen Behebung bis auf weiteres problematisch ist. Kein Wunder, daß sich in dem Volke, das wirklich bis zum Weißbluten gekämpft hat, ein vehementer Chauvinismus geltend macht. Kein Wunder aber auch, daß Politiker ohne Ideen und ohne Herz sich gern von dieser Volksstimmung auf den kurulischen Sessel tragen lassen. Noch hat sich nicht der führende Mann gefunden, der den Mut gehabt hat, rund heraus zu sagen, daß die Entschädigung nach den Buchstaben des Versailler Vertrages Chimäre bleiben muß. Briand wird der Mann noch nicht sein, aber vielleicht Wegbereiter für den kommenden.

Auswärtige Politik ist nicht etwas, was sich auf das Ressort eines Ministeriums beschränkt. Die gesamte innere Politik eines Landes ist die bewegende Kraft seiner Außenpolitik. Und wollte unser Auswärtiges Amt mit Engelszungen reden (was es übrigens nicht tut) – vergebliche Mühe, solange die innere Politik ohne festen Kurs ist und vom Tage lebt. Und schlimmer noch: solange jeden Staatsakt der Republik mißtönendes Geheul der Kaiseristen und Patriotarden begleitet und bureaukratische Obstruktion die Meinung entstehen läßt, es sei die Regierung nicht Herrin ihrer Organe. Nur eine feste und ehrlich demokratische Innenpolitik wird den Glauben erstehen lassen, daß es wieder ein Deutschland gibt, mit dem sich auf Treu und Glauben verhandeln läßt. Seit Jahr und Tag wird jede Handlung einer deutschen Regierung die geeignet ist, Brücken zu schlagen, durch die Kommentare der allzu mächtigen Reaktion kläglich desavouiert, und jeder günstige Eindruck durch irgendeinen beamteten oder nicht beamteten Lersner schnurstracks ins Gegenteil verwandelt. Manch bitterer Trank wird noch zu schlürfen sein, ehe wir mit den Franzosen an einem Tisch sitzen werden; aber es müßte sonderbar zugehen, wenn bei einigem guten Willen sich nicht schließlich Republik zu Republik und Demokratie zu Demokratie finden sollten.

Berliner Volks-Zeitung. 20. Januar 1921


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