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Demokratie im Wahlkampf

Es ist das Verhängnis des deutschen Volksstaates, daß er nicht geboren wurde in der Zeit einer gewissen Fülle und wirtschaftlicher Stetigkeit, sondern hervorging als letzte Rettung aus sittlichen und materiellen Zusammenbrüchen. Deshalb erscheint die Demokratie vielen Deutschen heute noch als etwas Wesenfremdes, als ein Fremdkörper, der sich eingeschmuggelt hat in Augenblicken der Dunkelheit und Verwirrung. Auch in England und Frankreich gibt es verbissene Reaktionäre, die die Demokratie dorthin wünschen, wo der Pfeffer wächst; aber niemand wird es wagen, dieser Abneigung öffentlich Ausdruck zu geben. Daß man eine Anpöbelung des demokratischen Gedankens gleichsam im Vorzimmer der hohen Politik abgeben muß, wenn man hineingelassen werden will, das ist ein trauriges deutsches Reservat. Und so zeigt auch der jetzige preußische Wahlkampf die Demokratie, diese einzige Idee, die genügend Spannweite hat, um alle Forderungen des modernen Geistes an die Politik zu umfassen, überall in der Defensive, verzweifelt um ihre Legitimation bemüht. Die knalligen Affichen der Kommunisten schreien in die Welt, daß Demokratie nicht mehr sei als eine besonders raffinierte Methode der Bourgeoisie, die Arbeiterklasse einzuseifen, und die Rechtsparteien decken ganz Berlin mit Plakaten zu, auf denen athletische Germanenjünglinge (deren Gliederbau allerhand von markenfreier Ernährung aussagt) mit kraftvoller Gebärde rote Ketten in Stücken reißen. Bis auf weiteres, eine schwache Abschlagszahlung nur auf kommende Genüsse, blickt der Alte Fritz mit grauumflorten Stielaugen auf »sein« Preußen herab; nicht gerade so wie der echte Fritz am schwarzen Tage von Zorndorf, aber doch so wie der Film-Fritz, dem die schöne Barberina auf der Nase herumtanzt.

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Wir Deutsche leiden in bedenklichem Maße daran, daß es uns nicht nur an politischem Instinkt, sondern auch an dem einfachsten Gefühl für Zusammengehörigkeit und Bande des Blutes gebricht. Es ist ein absurder Scherz des Schicksals, daß gerade diesem Volke, dem so intensiv wie keinem andern beständig der »nationale Gedanke« eingekerbt wird, das jährlich seinen mehr als ansehnlichen Prozentsatz von ebenso umfangreichen wie langweiligen Wälzern über die »Idee der Volksgemeinschaft« und dergleichen zustande bringt, so gründlich der Sinn für die allerschlichteste Volkssolidarität abgeht. Es ist einfach undenkbar, daß ein Ereignis wie der Dreyfus-Prozeß, der für Frankreich eine Epoche nationaler Reinigung und Besinnung eingeleitet hat, bei uns in ähnlichem Maße den Wellenschlag der öffentlichen Moral beschleunigen könnte. Das Volk, das so stolz ist auf seine Einheit, zerfällt in eine Unzahl von Einheiten, in einen kaum übersehbaren Komplex von isolierten Einzellengeschöpfen, deren Merkmale Aufgeblähtheit, Widerborstigkeit und ungesunder Appetit sind. Die Bismarck-Zeit hat eine tiefe Kluft hinterlassen zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum; auch den Besten späterer Tage war es nicht vergönnt, feste Brücken zu bauen. Was dabei herauskam, war im günstigsten Falle die Koalition auf der Grundlage kühler Vernunft, ohne Wärme, ohne innere Beteiligung, ohne den Wunsch, alle diese Kräfte in den Dienst von Zielen zu stellen, die der Tag nicht mehr bringt. Heute ist das Bild Deutschlands nicht allein gekennzeichnet durch die eine tiefe Kluft, sondern noch durch viele große und kleine Risse. Nicht daß ein Parteimassiv dem andern gegenübersteht, im Gegenteil, nichts ist in sich geschlossen, überall wuchern partikulare Bildungen. Geben wir es ohne Umschweife zu: der Deutsche ist im wesentlichen Individualist in einem nicht guten Sinne, präokkupiert dem Nächsten gegenüber und findet Zusammenschluß nur durch Zwang von außen. Deshalb lange Zeit hindurch dieses Übergewicht der vielgerühmten Organisation ... der unfreiwilligen, der bureaukratischen und militaristischen Organisation, die, Gefäße ohne Inhalt, schließlich dem ungeheuren Atmosphärendruck neuer Zeit erliegen mußten. Denn Demokratie ist nicht Zwangsorganisation, sondern Solidarität. Demokratie ist in ihrem tieferen Gehalt nicht politisches Programm und als solches dem Wandel der Zeit unterworfen, sondern Gesinnung, Art und Weise, zu denken. Nicht mit billigen agitatorischen Gesten Erfolge zu erzielen, ist die Aufgabe der Demokratie von heute, sondern einen bestimmten Gedankenkreis populär zu machen und die für Deutschland so notwendige demokratische Ideologie zu schaffen.

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Nach dem kläglichen Bankerott des Obrigkeitsstaates ist die Demokratie die einzig mögliche Staatsform. Weil sie sich nicht an eine bestimmte privilegierte Kaste wendet, sondern alle mobil machen will zum Dienst für alle. Hören wir doch endlich auf mit jener törichten Verachtung der »Masse«, die in Deutschland besonders als Merkmal eines selbständigen Geistes gilt. Hören wir doch auf, vor dem Spiegel zu rezitieren, daß Verstand stets bei wenigen gewesen sei. Nicht nur Schildbürgerstreiche kennzeichnen den Weg der Masse, auch Meere von Blut und Leid zu Bergen gehäuft. Eine Summe von Menschlichkeiten, das ist die Masse. Nein, unfehlbar ist die Masse nicht, niemand soll wider bessere Überzeugung vor ihren Taten und Unterlassungen den Hut ziehen. Aber die Gesamtheit eines Volkes zur Grundlage der Politik zu machen, das allein bedeutet einigermaßen stetige und unblutige Entwicklung. Überall, wo sich die Staatsform nicht in freier Luft über dem Volke wölbt, das die Pfeiler errichtet hat und stützt, sondern wie eine Grabplatte auf allen lastet, wird es zu gewaltsamen Entspannungen kommen. Überall, wo der Staat nicht natürlich und organisch aus dem geistigen Boden des Landes gewachsen ist, sondern dem Volkskörper gleichsam angehängt oder aufgeklebt erscheint, wird eines Tages das System wie ein zu eng gewordenes Kleid abgestreift werden. Keine Minderheitsherrschaft, und sollten in dem regierenden Gremium Solon und Kungfutie den Ausschlag geben, ist heute mehr denkbar. Die Zeit der regierenden Minoritäten ist abgelaufen; Dilettanten wühlen in den Trümmern herum, um aus kläglichen Resten das alte Haus neu zu bauen. Der nächste Windstoß wird es umwerfen. Die Demokratie hat solche Ungunst der Witterung nicht zu fürchten.

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Bei Anatole France steht irgendwo dieser Satz von blendender Ironie: »Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet den Reichen wie den Armen unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.« Aha, werden die Kommunisten rufen, da habt ihr eure geliebte formale Demokratie! Und von der Rechten wird ein schwaches Echo die berufsständische Gliederung empfehlen. Gemach! Die Demokratie mag zu Zeiten erschlaffen und erstarren, aber gerade in ihrer weiten Ausdehnung liegen die Möglichkeiten der Regeneration. Die Minderheitsherrschaft auf ihrer schmalen Grundlage kann leicht morbid werden, leicht in einer Krise sich selbst verlieren, denn jede Konzession bedeutet eine Erweiterung ihrer Grundlage und das Hineindringen von Elementen, die sie nicht zu assimilieren vermag. Die Demokratie ruht in sich selbst, ihre Erneuerung und Verjüngung trägt sie in sich. Töricht ist es, als Bürger einer Demokratie, also als ein Teil davon, die Demokratie zu verwünschen. Leicht schwingt ein Fluch sich fort und verhallt ebenso leicht; die Kunst ist eben, die Demokratie zu gebrauchen, mitzuhelfen, ihrem Handeln eine bestimmte Richtung zu geben. Nur ein Gebot kennt die Demokratie: aktiv sein! Seid tätig, und was heute noch utopisch erscheint, kann morgen Wirklichkeit werden. Der alte Autoritätsstaat wollte keine Bürger, brauchte Untertanen, Werkzeuge, Stumme – der Volksstaat braucht Mithandelnde, wenn er leben will. Allgemeine Gleichgültigkeit und Uninteressiertheit an Dingen des öffentlichen Lebens waren dem Obrigkeitsstaat wertvollste Verbündete – für die Demokratie das ärgste Übel. Anbetung des Buchstabens und der geschriebenen Satzung war dem Kaiserreich Lebenselement – die Republik würde daran zugrunde gehen. Viele Gefahren umlauern uns zurzeit in Deutschland; die formale Demokratie scheint die geringste davon. Werfen wir Ideen ins Volk, tun wir alles zur Ausbreitung und Vertiefung politischer Bildung, und wir kommen um diese Klippe herum.

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Alle diese Probleme stehen wieder im Mittelpunkt des Wahlkampfes. Es ist Sache der Demokratie, das ihrige zu tun, daß nicht allein der Randal triumphiert, sondern daß etwas gesagt wird, was ein wenig Besinnung hinterläßt. Die Phrase tobt, der alte Fritz blickt sauer auf »sein« Preußen; nicht Schlagwort und Legende, das politische Prinzip sollte sich endlich, endlich Gehör verschaffen. Mag Stresemanns Claque sich auf den Kopf stellen, es wird die Zeit kommen, wo der buntscheckige Allerweltsmann der ernsten politischen Persönlichkeit wird das Feld räumen müssen. Die Wahldemagogie mag zunächst mit leichtem Schuhzeug leichtes Laufen haben. Das Prinzip hat schwere, aber feste Sohlen und wird am Ziel angelangt sein, wenn die leichtere Rennerin irgendwo am Wegesrande sitzt und wehmütig die Blasen an den Füßen betrachtet.

Berliner Volks-Zeitung, 11. Februar 1921


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