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Am toten Punkt
Die internationale Lage

Während in Paris Herr Briand vor einem Senat, der nur noch auf starke Stimulantien reagiert, sich in wilden Drohungen ergeht, die, wie man sie auch im einzelnen einschätzen mag, doch darauf schließen lassen, daß man diesmal »ganze Arbeit« zu machen gewillt ist, steigt in Amerika eine magere Friedenstaube auf. Es soll und braucht nicht wieder dargelegt werden, daß optimistische Erwartungen gegenüber den Schritten der Harding-Regierung nicht ganz am Platze sind; der Friede mit den Vereinigten Staaten wird, soweit man nach der sehr wandelbaren Resolution Knox und den Äußerungen der maßgebenden Staatsmänner beurteilen darf, der Form nach nicht viel anders aussehen, als jener mit den anderen Ententemächten, also: Reparationspflicht und unumwundene Schuldanerkennung. Es läßt sich jedoch erwarten, daß Uncle Sam, der Weltgläubiger, bei seiner realistischen Veranlagung nicht auf Grund eines umfangreichen Papiers dem Hochmutsteufel verfallen oder gar Gefühle nationaler Verbitterung zur geheiligten Sache erheben wird. Eher ist schon anzunehmen, daß Amerika, dem ja Sünder wie Gerechte Geld schulden, zwar nicht über alle gleichmäßig die Sonne seiner Liebe aufgehen lassen wird, aber alle mit der gleichen Gefühlswurstigkeit behandeln und jenen unbeirrbaren Geschäftssinn walten lassen wird, dem ein schweigsamer Spatz im Kochtopfe mehr wert ist als ein angenehm beredter Herr Viviani im Weißen Hause. Bestreiten läßt sich nicht, daß ein so frostiger kaufmännischer Kalkül, der der neuen politischen Moral, die von den Besten dieser Zeit ersehnt wird, so gar nichts gibt, doch in der gegenwärtigen Hochkonjunktur europäischer Hysterie wie eine Erfrischung wirken und jenes Element nüchterner Sachlichkeit in die hohe Politik tragen kann, das wir Heutigen eigentlich nur noch aus Büchern kennen. Der »New York Herald« schrieb dieser Tage: nun, da Dr. Simons Deutschlands Reparationspflicht anerkannt habe und Hughes über dieses unzweideutige Eingeständnis erfreut sei, sollte eine dritte Partei als Schiedsrichter fungieren, um die deutsche Zahlungsfähigkeit zu bestimmen. Das ist ganz gewiß nur eine Meinung, läßt aber doch erkennen, daß die Amerikaner an das Reparationsproblem ohne geschwollene Forderungen und ohne gedunsenes Machtbewußtsein heranzugehen bestrebt sind.

Die Wiedergutmachung muß auf der Grundlage des Möglichen geschehen. Die Alliierten entschieden sich für den Weg der Repression. Man braucht und wünscht deutsches Geld und deutsche Arbeitsleistung und deutsche Kohle, aber man begrüßt zugleich jede innere Erschütterung Deutschlands, freut sich über jede innere Schwächung, die doch sofort auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands wesentlich beeinträchtigend wirkt. Daß man nicht zu einer klaren, eindeutigen Haltung gelangt ist, daß man dem Ressentiment den Vorrang überläßt vor der Vernunft, das rächt sich heute an den Alliierten und unterwirft ihre Wirtschaft allerschwersten Krisen. Wie in Frankreich nicht nur Freudenfeuer lodern, sondern, in den Tiefen verborgen, die Unzufriedenheit schwelt und schwelt, um vielleicht eines Tages als rotleuchtende Empörung das dürre Gebälk des Triumphgebäudes zu erfassen, so windet sich heute schon in England der sonst so stolze und aufrechte ökonomische Leib der Nation wie der heilige Laurentius auf dem Rost. Große Streiks mit turbulenten Begleiterscheinungen sind an und für sich jenseits des Kanals nichts Seltenes; aber immer wahrten solche Bewegungen bisher den Charakter interner Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum, und die Regierung, überlegen über dem Getriebe thronend, hielt ihr oberstes Schiedsrichteramt in kluger Reserve, so daß für sie und das Parlament von Westminster auch der heißeste Lohnkampf, der Hunderttausende erfaßte und ganze Industrien lahmlegte, eigentlich keine Einbuße an Autorität bedeutete. Dieser jetzige Ausstand aber richtet sich unmittelbar gegen die Regierung, gegen die Regierung, die verantwortlich ist für den Versailler Vertrag, für das Abkommen von Spaa, für das Scheitern der Londoner Konferenz. Ganz gewiß haben die streikenden Bergleute und die Organisationen, die sich ihnen angeschlossen haben, kein so weites politisches Gesichtsfeld, sie streiken zunächst nur. weil ihre wirtschaftliche Lage unerträglich geworden ist. Aber daß es zu einer solchen Verschlechterung der Lebensbedingungen der englischen Bergarbeiter kommen mußte, das ist die Schuld der englischen Außenpolitik, die durch Sanktionierung des Kohlenabkommens von Spaa, durch legale Festlegung einer deutschen Schleuderkonkurrenz die Montanindustrie des eigenen Landes aufs bitterste geschädigt hat. Durch diese deutschen Kohlenlieferungen nach Frankreich, Belgien und Italien wird die früher so bedeutsame englische Ausfuhr aufs schwerste getroffen, und als natürliche Konsequenz tritt ein Sinken des Arbeitslohnes unter den bisherigen Standard ein. Der Krieg war ein Weltereignis, das keine der vielen Nationalwirtschaften außer Betracht ließ – die Heilung seiner Schäden kann nur Weltangelegenheit sein. Der Diktatweg der einseitig alle Verpflichtungen einer Partei auferlegt, hat auf den toten Punkt geführt. Es gibt kein Weiter mehr, sondern nur noch einen Neubeginn mit anderem Geiste und anderen Methoden. Sprechen die wirtschaftlichen Kalamitäten der Entente, die sich allmählich zu nationalen Krisen ausgewachsen haben, nicht deutlich genug? In England hat man sich solcher Lehre schon längst nicht verschlossen, aber wie es das ewige Schicksal der Staatspolitik zu sein scheint, immer hinter den Ergebnissen der praktischen Vernunft einherzuhumpeln, so hat die englische Regierung sich bisher von ihrer besseren Einsicht durch rein platonische Beteuerungen loszukaufen versucht, und mit mehr oder weniger guter Miene ihre Politik an das böse Spiel Frankreichs gekettet.

Es ist eine ungewöhnlich amüsante Ironie der Dame Klio, daß in dem Augenblick, da Englands Staatsmänner von den Arbeitern des Landes eine so unfreundliche Quittung erhalten, Herr Aristide Briand unter der bewährten Devise »Nu jrade nich« eine jener Ludendorff-Offensiven gegen den Porzellanladen unternimmt, über deren katastrophale Wirkung wir kein Wort zu verlieren brauchen. Man kennt das von der »niedersausenden Hand«. Das ist so unverfälscht wilhelminisch, daß man beim ersten Lesen glaubt, ein Zeitungsblatt in die Hand bekommen zu haben, das schon etliche Jahre auf dem Nacken trägt. Wir geben unumwunden zu, daß Deutschland nicht immer der angenehmste Vertragspartner gewesen ist. Daß viele unserer Volksgenossen weder die Bedeutung der Entwaffnungs- noch der Reparationsfrage wirklich erkannt haben. Aber auch französische Politiker dürften wissen, daß keine Nation heute einen einheitlichen Meinungskomplex darstellen kann, daß alle mehr oder minder zerrissen sind. Eine so ungeheure Entschädigung, wie sie das deutsche Volk zu leisten hat, kann nicht ratenweise abgetrotzt und aberpreßt werden, sie setzt nicht nur die materielle Zahlungsfähigkeit, sondern auch seelische Bereitwilligkeit voraus. Und diese kann nie und nimmer dadurch erzeugt werden, daß man Herrn Foch den klirrenden Pallasch auf den Verhandlungstisch werfen läßt. Dazu gehört die Kunst politischer Pädagogik, gehört nicht zum wenigsten die Stärkung derjenigen Elemente, die gewillt sind, für eine gerechte Wiedergutmachung zu wirken und für neues Zusammenarbeiten der Völker zu werben. Herrn Briands sausende Hand wird Deutschland nicht zerschlagen, aber lieblich wie des Moses Zauberstab die innerlich verkalkende deutsche Reaktion berühren und anmutig plätschernde Redeflüsse hervorsprudeln lassen. Deutschland wird durch die ihm zugedachte Vibrationsmassage weder solventer werden noch zugrunde gehen, aber das europäische Gesamtbild wird bald einige neue Beulen sichtbar werden lassen. Denn jede Gewaltpolitik, mag sie sich auch nur gegen ein Land richten, hat die schwersten internationalen Folgen. Diese innern Zusammenhänge nach den Erfahrungen des Krieges nicht erkannt zu haben, das ist die schwere Sünde der heute Geschichte machenden Nachkriegspolitiker. Jeder Faustschlag wird verdoppelt, verdreifacht auf denjenigen zurückprallen, der das Problem, für das alle Geistigkeit der Gegenwart gerade gut genug ist, zu einem Tobenlassen rein physischer Überlegenheiten degradiert. Wer aus der Logik der Tatsachen nichts lernen will, der darf sich nachher nicht beschweren, wenn ihm die Tatsachen Logik einbleuen!

Berliner Volks-Zeitung, 9. April 1921


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