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Wer bisher noch an ein moralisches Prestige der Großmächte glaubte, ist durch den Verlauf des Balkankrieges gewiß für immer von seiner Illusion befreit worden. Wahrhaftig, die Mächte haben allen Kredit verloren! Wo blieb ihr vielgerühmtes intellektuelles Übergewicht? In Zukunft wird man nicht einmal mehr der Republik San Marino imponieren können. Welch eine Kette von Überraschungen, Verlegenheiten, Ungeschicklichkeiten ist nicht seit einem halben Jahre an dem staunenden Europa vorübergeschleift worden! Es drängt sich wirklich die Frage auf, ob die »großen« Diplomaten eigentlich Scheuklappen tragen. Können sie nicht natürliche Entwicklungen voraussehen? Die Armen! Immer, wenn sie ihre Aufgabe theoretisch gelöst haben, kommt eine »neue Wendung«, und händeringend stehen sie vor einer »neugeschaffenen Situation«. Man glaube nicht, daß nur auf dem Balkan Blut geflossen ist. Blut ist auch in den auswärtigen Ämtern der »Mächte« geschwitzt worden. Aber die offizielle und offiziöse Sprache ist die gleiche geblieben. Der gleiche höfliche Notenwechsel; die gleiche Kasuistik in den Pressekundgebungen! Nur, wenn die feinen, dialektisch geschulten Köpfe gar nicht mehr weiter wußten, dann wurden sie wie gewöhnliche Sterbliche auch. Nämlich grob. Und das maßlos. Wo blieb die kultivierte Überlegenheit der Herren? Sie pochten ganz einfach auf ihre militärische Machtstellung. Sie drohten Gewalt an. Nicht besser als ein rüder Patron am Schenktisch. Rußland hat der Türkei gedroht – und sich blamiert! Österreich hat mit Mühe und Not einen »moralischen« Sieg über Montenegro errungen.
Die Kleinen müssen geduckt werden. Das scheint in der Tat die Quintessenz modern europäischer Diplomatenweisheit zu sein. Wer schwach war, mußte es bitter fühlen. Am meisten die armen Türken. Aber auch die Balkanverbündeten, wenn ihr Vorrücken für einige Zeit stockte und Gerüchte über eine verminderte Aktionsfähigkeit ihrer Truppen auftauchten. Sogleich trat das System der Bevormundung in Kraft. In den Kabinetten lagen fix und fertig Vorschläge (lies: Bedingungen), die den Verbündeten aufgezwungen werden sollten.
So sehr wir den schlechten Brauch verdammen, der die Großmächte bestimmend in die wichtigsten Angelegenheiten der kleinen Völker eingreifen läßt, so können wir uns doch einer rein menschlichen Schadenfreude nicht erwehren, wenn wir die Entwicklung der Dinge vor Skutari betrachten. Zweifellos hat Österreich den Fürsten von Montenegro zur Ohnmacht verurteilt. Es liegt viel Tragikomik in dem Schicksale dieses Mannes. Eigentlich hat er nicht mehr getan, als seine anderen Berufsgenossen auf dem Balkan auch. Warum sollte er sich nicht gleichfalls an der großen türkischen Amputation beteiligen? Wo alles stahl, konnte Nikita allein doch nicht zurückbleiben. Aber er ist schwach. Er hat nicht die durchschlagenden Argumente Kruppscher Kanonen. Seine kleine Kriegsmacht verrottet vor dem Felsennest Skutari langsam am Typhus. Vergebens träumen seine Hammel, die an den gestrüppreichen Abhängen der schwarzen Berge grasen, von den fetten Weidegründen Albaniens. Montenegro wird jämmerlich abgespeist werden. Nichts bekommt es als einen häufig von Überschwemmungen heimgesuchten Landstrich. Mag Nikita noch so laut seine Stimme erheben, er wird sich zufrieden geben müssen trotz seiner vornehmen Verwandtschaft. Seinetwegen wird niemand einen Finger rühren. Er gehört nur zu den Objekten der hohen Politik, zu den Machtlosen. Gerade wie die Türkei, deren Schwäche er schonungslos mißbrauchen wollte. Vergeltung! Er wird gestraft, wie er sündigte. Seine Montenegriner, die den Krieg geräuschvoll eröffnet haben, werden, wenn alle anderen mit ihrer Beute zu Hause sind, stillschweigend heimziehen müssen. Die ersten werden die letzten sein.
Inzwischen haben die Bulgaren Adrianopel mit stürmender Hand genommen. Bald werden sie vielleicht auch die Tschataldschalinie überrennen. Sie haben der Passivität entsagt, um zu beweisen, daß sie weder klein noch schwach sind. Wieder stecken die Diplomaten verlegen die klugen Köpfe zusammen. Unzählige Federn kratzen. Täglich wird neues Schreibmaterial requiriert; denn die Angelegenheit ist »unversehens in eine neue Phase getreten«.
Das freie Volk, 5. April 1913